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Bedarfe und Bestände – Wie bekommt man die in Einklang?

Bestände binden Kapital, das an anderer Stelle effizienter eingesetzt werden könnte. Bestände kosten auch Geld. Und diese Kosten sind oft höher, als die meisten von uns ahnen. Die Verringerung von vorhandenen Beständen kann also viel unternehmerischen Spielraum schaffen.

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Wesentliche kalkulatorische Kosten bei der Ermittlung des Lagerhaltungskostensatzes

Je nachdem, wie man die kalkulatorischen Kosten der verschiedenen Positionen eines Lagerhaltungskostensatzes bewertet, kommen im Schnitt laufende Kosten von 19 % bis 30 % der Bestandskosten pro Jahr zusammen. Extrem selten erlebt man, dass die kalkulatorischen Kosten unter 15 % fallen.

Leider verstecken sich die Lagerhaltungskosten aber an verschiedenen Stellen im Unternehmen, sodass viele nicht merken, mit welch teurem Kredit sie ihre Bestände finanzieren und deshalb werden Bestände auch großzügig über das erforderliche Maß hinaus aufgebaut.  Überbestände sind nämlich bequem und haben viele heimliche Sympathisanten. Ein wirklich erfolgreiches Bestandsmanagement beginnt aber damit, dass ein Unternehmen seine eigenen Überbestände immer wieder ermittelt. Hierzu gibt es drei ganz unterschiedliche Ansätze.

Bodensatzanalyse
Ein beliebter Ansatz, Überbestände im Unternehmen zu ermitteln, ist die Bodensatzanalyse. Unter einem Bodensatz versteht man im Bestandsmanagement einen Bestand, der während eines bestimmten Betrachtungszeitraums nie angegriffen wurde. Das entspricht dem geringsten Bestand, der während dieses Betrachtungszeitraums auf Lager lag. Es sieht auf den ersten Blick plausibel aus, einen Bestand, den man in den letzten 12 Monaten nicht benötigt hat, als unnötigen Bestand und damit als Überbestand anzusehen. Bei genauerer Betrachtung ist diese Überlegung aber zu einfach. Nur weil Sie in den letzten 12 Monaten Ihre Hausratversicherung nicht benötigt haben, kündigen Sie diese ja auch nicht sofort. Wenn aber der Bodensatz als Beurteilungsgröße für Überbestände nicht taugt, welcher Ansatz bleibt dann?

Vergleich der Durchschnittsbestände
Sofern die Dispositionsqualität stimmt und das erforderliche Datenmaterial vorhanden und auswertbar ist, kann man zum Beispiel für jeden Artikel den Durchschnittsbestand der Vergangenheit mit dem rechnerischen Durchschnittsbestand der Zukunft vergleichen, womit wir zum zweiten möglichen Verfahren gelangt sind. Der Durchschnittsbestand der Zukunft wird bei diesem Verfahren aus den Einstellungen der Dispositionsparameter und aus dem erforderlichen Sicherheitsbestand ermittelt. Doch auch diese idealtypische, in die Zukunft gerichtete Berechnung des Durchschnittsbestands spiegelt noch kein reales Bild wieder, da zu viele Störgrößen auf die Disposition einwirken, die bei einer solchen idealisierten Zukunftsbetrachtung ausgeblendet werden.

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2: E:S:A-Methode zur pragmatischen Ermittlung von Überbeständen

Der E:S:A-Berechnungsmechanismus
Ein dritter Ansatz ist der E:S:A-Berechnungsmechanismus für Überbestände, mit dem wir seit Jahren gute Ergebnisse erzielt haben. Er zeichnet sich durch seinen geringen Aufwand aus. Er basiert auf detaillierten statistischen Auswertungen vieler Bestandsmanagementprojekte und benötigt erstaunlich wenige Daten je Artikel, die sehr einfach aus jedem ERP-System gezogen werden können. Speziell für SAP wurde sogar ein ‚Diagnosestecker‘ entwickelt, mit dem man die benötigten Daten über eine standardisierte Schnittstelle auslesen kann. Ein Nachteil dieses Verfahrens: Aus statistischen Gründen lassen sich keine Aussagen über einzelne Artikel treffen, sondern nur über die gesamten Überbestande einer Lagerstufe – also beispielsweise die eines Fertigwarenlagers. Wo die Überbestände genau liegen und wodurch sie verursacht wurden, muss anschließend noch in detaillierteren Analysen herausgefunden werden.

Initial zu empfehlen sind gegenüber der Bodensatzanalyse also eher der Vergleich der Durchschnittsbestände oder die E:S:A Methode. Aber egal, welches Verfahren man anwendet: Zu einem Bestandscontrolling gelangt man nur, wenn die Analysen gezielt und regelmäßig durchgeführt werden. Und egal welche Methode Sie auch anwenden: Es gilt immer zu ergründen, wodurch es letztlich zu den ermittelten Überbeständen gekommen ist. Vergleichbar mit Kopfschmerzen sind Überbestände nämlich nur Symptome, deren Ursachen man erst noch erkennen muss.

Bestandstreiber-Workshops
Welche Überbestände unvermeidbar waren und welche wie vermeidbar gewesen wären, lässt sich mit den Bordmitteln eines Unternehmens am besten ermitteln, indem man in Workshops alle Funktionsbereiche zusammenbringt, die direkt oder indirekt zur Bestandshöhe der betrachteten Artikel beitragen. In solchen ‚Bestandstreiber-Workshops‘ können die Bestandshöhen der kritischen Artikel aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet werden, um die möglichen Bestandsursachen herauszuarbeiten.

Regelmäßige Bestandstreiber-Workshops können dann helfen, die Ursachen von überhöhten Beständen zu identifizieren und kurzfristig Abhilfe zu schaffen. Nachhaltige wirkende Bestandssenkungseffekte sollte man sich von ihnen aber eher nicht erhoffen, wie wir regelmäßig feststellen. Es reicht eben nicht aus, Probleme situativ zu beseitigen; man muss sie grundsätzlich lösen, indem man die Ursachen beseitigt oder zumindest verringert.

Statistische Prognosen
Wesentliche Bestandstreiber sind nämlich oft auch struktureller Natur. Sie liegen beispielsweise in fehlerhaften Bedarfsprognosen. Um zu wirklich aussagekräftigen Bedarfszahlen zu gelangen, führt deshalb meist kein Weg an der Anwendung statistischer Prognosen vorbei. Hier ist jedoch Achtung geboten, denn klassische Prognoseverfahren und -methoden setzen eine sog. normalverteilte Nachfrage voraus, die bei über 80% der Artikel nicht vorliegt. Generell ist zu empfehlen, mit der Statistik zu starten und die Daten durch Informationen seitens des Vertriebs, hinsichtlich Marktentwicklungen, Aktionen und Projekten anzureichern. Diese Reihenfolge führt meist zu operativ belastbareren Aussagen und schlussendlich auch zur Senkung von Beständen – oftmals sogar mit einer Steigerung der Lieferbereitschaft verbunden.

Advanced Planning and Scheduling Systeme
Bei praktisch allen im Bestandsmanagement führenden Unternehmen hat sich die Absatz- und Bedarfsprognose als wesentlicher Hebel zur Reduzierung der Bestände herausgestellt. Belastbare Absatz- und Bedarfsprognosen auf Basis statistischer Verfahren sind für sie eine wesentliche Grundlage, bedarfsgerechter disponieren zu können. Einziger Knackpunkt: Mit dem statistischen Repertoire eines ERP-Systems kommt man nicht weit. An speziellen Prognosesystemen oder APS-(Advanced Planning and Scheduling) Modulen kommt man nicht vorbei. Um auch gleich die Dispositionsqualität zu verbessern, lassen sich APS -Systeme, wie z.B. DISKOVER SCO der SCT GmbH, als Tuning-Instrument für das ERP-System einsetzen, um die artikel- / materialspezifischen Planungs-, Steuerungs- und Dispositionsparameter zu optimieren und laufend nachzusteuern. Dazu lassen sich höchst differenzierte Regelwerke und Entscheidungstabellen in der APS-Software abbilden und viele Prozesse optimieren, sodass trotz komplexerer Werkzeuge am Ende weniger Arbeit für ein besseres Ergebnis eingesetzt werden muss.

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Ein wirkungsvolles Bestandsmanagement kommt an statistischen Absatzprognosen nicht vorbei.

Planen am logistischen Entkopplungspunkt
Irrtümlicherweise meinen viele Unternehmen, die vorrangig oder ausschließlich kundenspezifische Endprodukte herstellen, dass für sie eine Prognose nicht möglich sei. Dies ist aber zu kurz gedacht. Bedarfsprognosen müssen nämlich grundsätzlich am logistischen Entkopplungspunkt angesetzt werden. Der logistische Entkopplungspunkt ist die Lagerstufe wertstromabwärts, bis zu der kundenauftragsneutral und ab der kundenauftragsbezogen gefertigt wird. Für Hersteller kundenspezifischer Endprodukte liegt der logistische Entkopplungspunkt typischerweise vor der Montage, jedenfalls an der letzten Lagerstufe auf der ohne Kundenauftragsbezug gelagert wird. Für unterschiedliche Materialnummern kann es dabei durchaus unterschiedliche Entkopplungspunkte geben. An den jeweiligen logistischen Entkopplungspunkten müssen sodann die passenden Bestände für die jeweiligen Planungsobjekte aufgebaut werden. Je nach Lage der Entkopplungspunkte können Endprodukte, Baugruppen oder Einzelteile die Planungsobjekte sein.

Autor: Prof. Dr. Götz-Andreas Kemmner

 

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