Renaturierung oder aquatischer Exorzismus?
Fließende Gewässer wurden über viele hundert Jahre „reguliert“. Einer der Hauptgründe für Regulierungsmaßnahmen war die Angst vor dem (Hoch)Wasser. Aber auch aus landwirtschaftlichen Gründen suchte man nach Möglichkeiten, das Wasser zu beseitigen.
Redaktion: Peter Baumgartner.
Der Dämon Wasser musste ausgetrieben werden, weil er Hab und Gut und sogar das Leben der Menschen bedrohte. Man könnte also sagen, Wasserbauer sind aquatische Exorzisten. Der Exorzist, der den Exorzismus durchführt, soll in eine direkte Kommunikation mit dem Dämon treten und versuchen, dessen „Beseitigung“ herbeizuführen. Beim Exorzismus geht es also um die Abwendung des Bösen bis hin zu dessen Ausrottung. Genau wie im Wasserbau. Die Rituale, die dabei angewendet wurden und noch werden, sind vielfältig. Vielleicht nennt man deshalb die Trockenlegung von Feuchtgebieten in der Fachsprache „Wasseraustrieb“. Jedenfalls geschah die Besitzergreifung von aquatischen Ökosystemen über die Jahrhunderte zunehmend effizient. Wie effizient, zeigt zum Beispiel eine Forschungsarbeit (ENVIEDAN (Environmental history of the Viennese Danube, Umweltgeschichte der Wiener Donau 1500 – 1890) von Verena Winiwarter.
Die Wissenschaftlerin des Jahres 2013 hat mit einem interdisziplinären Team 500 Jahre Donauregulierung in Wien dokumentiert. Dabei wurde sichtbar, wie gravierend sich der Fluss selbst durch relativ einfache Wasserbaumethoden, in erdgeschichtlich gesehen kurzer Zeit, verändert hat. Fast unglaublich, wie aus einem Fluss, dessen Adern einst das Wiener Becken vollständig durchzogen, ein träg fließender Kanal wurde. Die langfristigen Folgen dieser menschlichen Aktivitäten sehen wir heute und sind Gegenstand einer Bewegung, die sich weltweit Renaturierung nennt. Inzwischen wurde nämlich erkannt, dass der Verlust von Überschwemmungsflächen ebenso verheerende Auswirkungen hat, wie seinerzeit der unregulierte Fluss. Allerdings werden jetzt die Kosten entstandener Schäden, zum Beispiel durch Überschwemmungen, um ein Vielfaches höher. Die neue Erkenntnis lautet daher, wir müssen an den Flüssen wieder einen naturnahen Zustand herbeiführen. Es muss „renaturiert“ werden. Menschliche Eingriffe in die Natur sollen durch menschliche Eingriffe weitestgehend beseitigt werden und langfristig soll sich das Ökosystem ohne menschliche Hilfe wieder selbst regenerieren und erhalten. Dominierendes Streben ist die „Konnektivität“. Das Prinzip Vernetzung dominiert den gesellschaftlichen Wandel in allen Lebensbereichen – so auch im Wasserbau.
Grundlage für die Zielsetzung sind eine Reihe von Verordnungen, übergeordnete Planungen, Studien und Gesetze, die inzwischen festlegen, was bis wann und wie zu geschehen hat. Da gibt es zum Beispiel die Wasserrahmenrichtlinie (WRRL, 2000/60/EG). Sie wurde 2000 von den EU-Mitgliedsstaaten verabschiedet und sollte die europäische Wasserpolitik grundlegend reformieren. Erstmals werden darin Gewässer (Flüsse, Seen, Übergangsgewässer, Grundwasser, Küstengewässer) als Ökosysteme verstanden und erstmals werden Ziele für einen besseren Zustand dieser mit konkreten Fristen beschrieben. Zentrale Teile der Richtlinie sind ein Verschlechterungsverbot und eine Verbesserungspflicht. Schon 2027 sollen diese Vorgaben erfüllt sein.
Daneben gibt es den Green Deal der EU und als dessen Herzstück die EU-Biodiversitätsstrategie. Sie nennt als Ziel, die Biodiversität in Europa bis 2030 auf den Weg der Erholung zu bringen. Auf österreichischer Seite ist für die Zielsetzung neben den EU-Vorgaben das Wasserrechtsgesetz und der mittlerweile 3. Nationale Gewässerbewirtschaftungsplan (NGP), der noch 2021 veröffentlicht wird, maßgeblich. Der wiederum fußt auf einer Strategischen Umweltprüfung (SUP) und beschreibt zum Beispiel, welche Gewässerrenaturierungen schwerpunktmäßig durchzuführen sind und welche finanziellen Mittel dafür bereitgestellt werden.
Was sich die Nationalstaaten hier vorgenommen haben, ist eine Mammutaufgabe. Ähnlich wie das Vorhaben, dass unsere Vorfahren vor 500 Jahren begonnen haben, stehen wir jetzt vor der Aufgabe, alles wieder zu korrigieren. Der Bericht über den „Zustand der Natur in der Europäischen Union“ (2013-2018) zeigt, dass sich der Erhaltungszustand der Lebensräume im Vergleich zur Vorperiode nicht verbessert hat. Nur 15 % der Lebensraumbewertungen weisen auf einen guten Erhaltungszustand hin. Man steht in der EU praktisch erst am Beginn des Handlungsbedarfes. Entsprechend dramatisch klingt die Warnung der EU, wenn die Bemühungen um eine Ökologisierung nicht beschleunigt werden: „Geschieht dies nicht, so wird dies nicht nur die fortgesetzte Erosion unseres gemeinsamen Naturerbes zur Folge haben, sondern auch die fortgesetzte Erosion der lebenswichtigen Funktionen, die dieses Erbe liefert und die letztlich die Grundlage für die Gesundheit und den Wohlstand der Menschen bilden“. Der nächste Zustandsbericht (2027) wird also zur Zäsur. Zahlreiche Umweltorganisationen in Österreich kritisieren und verweisen auf eine Studie der Universität für Bodenkultur (BOKU), dass aktuell nur noch 15 Prozent der Flüsse ökologisch intakt sind. Bereits 2010 hat der Rechnungshof die Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie überprüft und kritisiert, dass die vorgegebenen Ziele bis 2027 nicht erreicht werden. Auch im zweiten Bericht (2019-Ökologisierung Fließgewässer, zweite Sanierungsperiode), kritisierte der RH die massiven Verzögerungen in Österreich, die sogar ein Vertragsverletzungsverfahren seitens der EU zur Folge hatten. Aktuell kritisiert der WWF, dass Österreich nur einen Bruchteil des Finanzbedarfs zur Verfügung stellt, um die Vorhaben rechtzeitig umzusetzen. Besonders harsche Kritik übt der EU-RH an der EU-Agrarpolitik. Diese sei nicht geeignet, die Landwirtschaft dazu zu bringen, dass sie die Anforderungen der Wasserrahmenrichtlinie erfüllt. Vielmehr fördere die EU-Agrarpolitik eine ineffiziente Wassernutzung.
Das klingt alles sehr kompliziert – ist es auch. Schließlich geht es nicht nur darum, unzählige Renaturierungsmaßnahmen zu setzen. Es geht auch um die Verteilung von sehr viel Geld. Wer ein Stück vom Kuchen bekommt, unterliegt einem komplizierten Prozedere, das nur von Experten durchschaubar ist. Bevor noch ein einziger Stein in der Natur bewegt wird, kämpfen Unternehmen und Organisationen mit dem Schöpflöffel und Baggerschaufel am Fördertopf. Eines der wichtigsten Finanzierungsprogramme für diese Aufgaben ist EU-LIFE. In der Programmperiode 2021-2027 stehen seitens der EU 5,43 Mrd. Euro an Fördergeld zur Verfügung. Die Finanzierung der Renaturierungsmaßnahmen erinnert ein wenig an das beliebte DKT-Brettspiel, das ursprünglich eigentlich „Spekulatio“ hieß und fast schon so alt ist, wie die Wasserbauwirtschaft. Tatsächlich gibt es seit 2021 „Das kaufmännische Talent“-DKT auch als Wachau-Version. Neben einer Donaulände kann man auch einen Treppelweg erwerben und damit spekulieren. Zur Präsentation des Spieles sind extra Nationalratspräsidenten Mag. Wolfgang Sobotka, Landeshauptmann-Stv. Dr. Stephan Pernkopf und der für die Donau zuständige Staatssekretär Dr. Magnus Brunnner in die Wachau-Gemeinde Rossatz-Arnsdorf zu Bgm. Erich Polz gereist.
Die Frage ist, kann das übergeordnete Ziel der Renaturierung und Beseitigung degradierter Ökosysteme überhaupt gelingen? Was ist ein natürlicher Lebensraum? Welchen Zustand sollen wir herstellen? Den von vor 100 Jahren, von vor 500 oder gar zehntausend Jahren? Man könnte auch die Prädonau als ideales Ziel anstreben. Wer bestimmt, welche ehemaligen Regulierungsbauwerke wieder abgerissen werden sollen? Vielleicht den Marchfeldschutzdamm, der der Donau 34 Quadratkilometer Auland gekostet hat? Anlässlich der aktuellen Neugestaltung des Nordwestbahnhof-Geländes in Wien, würde sich auch die Gelegenheit ergeben, dass alte „Fahnenstangenwasser“ – welches 1838 endgültig zugeschüttet wurde, wieder freizulegen. Dann könnten Schiffe endlich wieder am Augarten anlegen. Es stellt sich auch noch die Frage, wessen natürlicher Lebensraum soll prioritär geschützt werden? Den der Fische, der Vegetation oder des Wassers? Forscher an der Uni Wien halten fest, dass eine vollständige Regeneration des Ökosystems oftmals nur in historischen oder geologischen Zeiträumen möglich ist. Andere behaupten überhaupt, dass wir mit dem Vermächtnis vergangener Generationen werden leben müssen. Nährstoffeinträge aus der Landwirtschaft, Abwasser Einträge, Regulierungen, Kraftwerksbauten, Feststoffhaushalt, Sohleeintiefung usw., all das wird uns bis in alle Ewigkeit begleiten.
Ist also alles rund um die Renaturierung und Ökologisierung für die Katz, wenn wir es eh nicht schaffen? Da muss man wohl einwenden, dass sich der ganze Aufwand jedenfalls für die Wirtschaft lohnt. Was würden die vielen Wasserbauexperten machen, wenn keine neuen Eingriffe in die Natur erfolgen sollen und Rückbauten auch nicht? Was jetzt gerade passiert ist, dass sich die Wirtschaft die gesellschaftliche Änderung zunutze macht und die Kriegskasse füllt. Wir haben nämlich die paradoxe Situation, dass Renaturierungsmaßnahmen und neue Eingriffe in die Natur parallel laufen. Das wird so nicht mehr lange gehen. Der Widerstand wächst. Vor dem Hintergrund der Dekarbonisierung in der Energieversorgung, wachsen die Begehrlichkeiten bezüglich erneuerbarer Energie. Besonders der Ausbau der Wasserkraft soll die Energieversorgung retten. Eine ganze Reihe von namhaften Experten läuft aber bereits dagegen Sturm, weil sie der Meinung sind, das würde den gegenwärtigen Trend des Biodiversitätsverlusts verschärfen. Alle Umweltorganisationen haben sich bereits ebenfalls gegen neue Wasserkraftwerke ausgesprochen, die nicht naturverträglich gebaut werden.
Zusammenfassend bleibt eine zentrale Frage unbeantwortet: Wie ernst ist es den Entscheidungsträgern mit der Ökologisierung? Unser Flusssystem und das aquatische Ökosystem hat zwar einen großen Anteil am Gesamtsystem, ist aber eben nur ein Teil des großen Ganzen. Damit das Gesamtsystem funktioniert, müssen alle Räder ineinandergreifen. Hat schon mal jemand gesagt, wir müssen nicht nur Flüsse, sondern auch Autobahnen renaturieren? Wie sinnbefreit ist das Ansinnen, Flüsse hochwasserfit zu machen, wenn gleichzeitig die Bodenversiegelung an Land ungehindert fortschreitet? Welchen Sinn hat der Schutz von Fischbeständen, wenn gleichzeitig die Einträge aus der Landwirtschaft und Industrie zunehmen? Brauchen wir mehr Natur nur deshalb, damit wir noch mehr Natur verbrauchen und zerstören können?
»Es ist noch nie gelungen, ein Problem an seinem Ende zu reparieren. Man muss an seine Ursachen gehen«, sagt die Umwelthistorikerin Verena Winiwarter. (PB)