Setzt der Erpressbarkeit ein Ende!

Geld regiert die Welt… die Menschenrechtskonvention verliert ihre Bedeutung, und alle halten die Füße still – Hauptsache, es kommen keine Flüchtlinge in die EU. Flugzeuge werden zum Landen gezwungen, Menschen als Druckmittel zur Außengrenze gekarrt, Andersdenkende gefoltert und inhaftiert… von der „scharfen Verurteilung“ können sich die Betroffenen nicht mal ein Pflaster kaufen. Die EU hat sich erpressbar gemacht, und die Konsequenzen tragen die Ärmsten.

Redaktion: Angelika Gabor.

Die globale Coronapandemie ist so omnipräsent, dass viele andere Meldungen in den Hintergrund rücken. Und doch geschieht es tagtäglich: Menschen flüchten, hungern, sterben. Immer wieder treffen sich namhafte Politiker verschiedener Nationen – G7, G8, G20 oder wie sie alle heißen – um darüber zu schwadronieren, was alles falsch läuft und wer schuld daran ist. Lösungen dazu sind eher Mangelware, aber im Idealfall wird das Problem ausgelagert. Nehmen wir als Beispiel das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei, das 2016 nach kurzer Schockstarre angesichts der Flüchtlingsströme aus Syrien (huch, da kommen wirklich Viele, wer hätte das gedacht, ist ja nur ein Krieg) geschlossen wurde.

Die Quintessenz daraus: die Türkei verhindert Migration in die EU und nimmt illegal zB nach Griechenland gereiste Flüchtlinge ohne Asylanspruch zurück. Im Gegenzug übersiedelt die EU für jeden zurückgeschickten unerlaubt Eingereisten einen syrischen Flüchtling aus der Türkei innerhalb der Union und zahlt 6 Milliarden Euro für die Versorgung. Plus: eine Erleichterung der Einreise für türkische Staatsbürger.

Was auf dem Papier vielleicht praktikabel klingen mag – über die menschliche oder ethische Komponente dieses Handels denken wir jetzt lieber nicht nach – war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Eine Verteilung innerhalb der Mitgliedsländer? Kaum eine nationale Regierungspartei steigert ihre Popularität durch die freiwillige Aufnahme von Flüchtlingen… Im Jahr 2019 hat laut türkischem Vize-Außenminister Faruk Kaymakci die Türkei 455.000 Migranten an der Weiterreise gehindert, im Jahr 2020 immerhin noch 122.000 – und für die Versorgung der rund 3,7 Millionen syrischer Flüchtlinge im Land rund 40 Milliarden Euro ausgegeben. Dem gegenüber stehen die 4,1 Milliarden Euro, die von den zugesagten 6 EU-Milliarden bereits gezahlt wurden. Und es gibt noch eine unausgesprochene Komponente, die den Deal so prekär macht: die „Sagt nichts gegen meine Politik oder meine Person, oder ich winke die Leute durch und das Flüchtlingsabkommen ist gestorben“-Klausel. Dabei gab es auch in den letzten 5 Jahren einige Themen, die sich durchaus einen größeren Aufschrei verdient hätten, wie etwa das brutale Vorgehen gegen seine Gegner beim Putschversuch im Juli 2016, die unmenschlichen Anti-Terrorgesetze, das Vorgehen gegen Kurden, das Beschneiden der Pressefreiheit, der Gas-Streit im Mittelmeer oder die Inhaftierung Andersdenkender, wie des Kulturförderers Osman Kavala.

Erhebt man offiziell die Stimme wie letztes Jahr (damals ging es um die Situation in Idlib), wird einfach die Grenze zu Griechenland geöffnet, und damit das Tor zur Hölle für die gebeutelten Flüchtlinge, die voller Hoffnung Richtung Europa zogen, um dann mit Tränengas, Blendgranaten und Schlagstöcken von griechischen Sicherheitskräften zurückgetrieben zu werden. Zum Glück haben diese traumatisierten Menschen danach nicht die Zeitung gelesen, in der zu lesen war, dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Griechenland lobte und dafür dankte, der „Europäische Schild“ zu sein. Egal wie – Hauptsache es kommt keiner über die Grenze.

Andere Grenze, gleiches Vorgehen
Ich stelle mir vor, wie der Türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ein Kaffeekränzchen veranstaltet. Gäste: der belarussische Machthaber Alexandr Lukaschenko, Russlands
Präsident Wladimir Putin und der Ungarische Ministerpräsident Viktor Orban. Sie unterhalten sich köstlich über ihre Auslegung der Menschenrechte und wie sie von der EU bekommen, was sie sich wünschen. Besonders perfide das Vorgehen Lukaschenkos: Flüchtlinge aus Krisenregionen wie dem Irak, aus Syrien und Afghanistan werden mit touristischen Visa nach Belarus geholt und dann an die polnische Grenze gebracht, um Druck auszuüben. Als Reaktion darauf wurde in Polen flugs ein Grenzzaun errichtet, mehr als 15.000 Sicherheitskräfte patrouillieren. Mit Wasserwerfern und Tränengas (deja vue?) werden die Menschen zurückgedrängt, zu Tausenden verharren sie in bewachten Notlagern an der Grenze.

Die EU erkennt Lukaschenkos Wahlsieg 2020 nicht an und verhängte aufgrund des Vorgehens gegen Demonstranten, Medienvertreter und die Opposition sowie für die Wahlfälschung Sanktionen, die immer wieder verstärkt wurden. Dazu zählen ein Reiseverbot und das Einfrieren von Vermögenswerten von inzwischen insgesamt 166 Personen und 15 Organisationen, darunter etliche Mitglieder belarussischer Behörden und der Diktator selbst. Die erzwungene Landung eines Ryanair-Jets in Minsk zur Festnahme des regimekritischen Journalisten Raman Protasewitsch und seiner Lebensgefährtin Sofia Sapega sorgte international für Aufsehen – und natürlich für weitere Sanktionen wie den Ausschluss belarussischer Fluglinien aus dem gesamten EU-Luftraum.

Was für ein freundlicher Zeitgenosse er ist, bewies Lukaschenko mit seiner Begründung für die Schließung von 270 NGOs während eines BBC Interviews: „Wir werden all den Abschaum massakrieren, den ihr, der Westen, finanziert habt.“ Der Westen sei nur frustriert, weil „wir jetzt all eure Strukturen zerstört haben – eure NGOs und all jene, die ihr bezahlt.“ Gegen Verfolgungswahn gibt es übrigens Medikamente, im Idealfall teilt er die dann mit den anderen Teilnehmern beim oben erwähnten Kaffeekränzchen. Jedenfalls sind die Sanktionen natürlich unangenehm, daher das Spiel mit den Flüchtlingen. Und wie sieht die Strategie der EU abgesehen von Sanktionen aus? Sie verspricht ein drei Milliarden Euro schweres Investitions- und Wirtschaftspaket für Belarus, sobald das Land demokratisch wird. Und was macht Lukaschenko? Der freut sich über eine Milliarde Dollar Sonderziehungsrechte, die ihm der IWF zur Überwindung der Corona-Pandemie gewährte und damit im vergangenen August die Währungsreserven des Regimes auf einen Schlag um fast zwölf Prozent erhöhte. Und wenn das nicht reicht, holt er sich einfach neue Kredite bei seinem guten Freund Putin. Und lacht über den Westen. Derweil wird in Litauen der Ausnahmezustand verhängt, weil die importierten Migranten aus Belarus nicht nur nach Polen stürmen, sondern in ihrer Verzweiflung auch in die andere Richtung ausweichen – wo sie von Soldaten mit Wasserwerfern empfangen werden (wie gut, dass es an allen Grenzen einen ausreichenden Vorrat davon gibt).

Bis dato hat es die EU nicht geschafft, die die gemeinsame Asylpolitik zu reformieren und so Migration und Flucht nach Europa dauerhaft und nachhaltig zu regeln. Der Knackpunkt: die Umverteilung ankommender Asylwerber zwischen den Staaten, da einige Länder die Aufnahme strikt verweigern. Solidarität? Ist wohl im Mittelmeer ertrunken. Gleichzeitig werden Konflikte weiter befeuert und Waffenproduzenten können munter weiter exportieren und sich am Leid bereichern. Demokratie und Menschenrechte werden mit Füßen getreten, aber wir kuschen und lassen uns erpressen. Wir müssen gemeinsam eine Pandemie bekämpfen, Terror verhindern, die Kluft zwischen Arm und Reich verringern und die Klimaerwärmung stoppen, aber die EU zerbricht an der Flüchtlingsverteilungsfrage. Rosige Aussichten… (AG)

LOGISTIK express Journal 5/2021

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