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Supply-Chains im Stress-Test

Supply-Chain-Transparenz ist wichtig, reicht aber in der heutigen Zeit nicht mehr. Wer auf Supply-Chain-Störungen nur reagiert, hat ein Problem. Vorbeugendes Handeln ist notwendig.

Beitrag: Thomas Kofler.

Der sich rasch verbreitende Coronavirus gefährdet Lieferketten und ganze Supply-Chain-Ökosysteme, führt zu kostenträchtigen Produktionsunterbrüchen und Lieferengpässen in zahlreichen Branchen – von Automotive, Elektronik bis Pharma und Textil. Dabei sind Lieferkettenstörungen – Menschen gemachte wie auch Naturereignisse – kein neues Phänomen. Das Supply Chain Management (SCM) gehört zu den komplexesten Aufgaben in Unternehmen.

Globale Lieferquellen, Einbindung unterschiedlichster Partner, ob Produktionsstandorte, Lieferanten, Lagerhalter, Spediteure, Transporteure, Zollbehörden, Distributoren, unzählige physische und digitale Schnittstellen – es gibt so viele Faktoren, die den Überblick über Supply-Chain-Ökosystem und den Durchblick erschweren. Und die Anforderungen an das SCM steigen stetig weiter. Die Unternehmen müssen immer schneller auf Nachfrageveränderungen reagieren beziehungsweise diese immer besser vorausschauend einschätzen können.

Aufgrund des „Amazon-Effekts“ (günstig und schnell per Mausklick bestellt und morgen geliefert) stehen viele Konzerne unter starkem Wettbewerbsdruck. Der Verbraucher erwartet ein vollendetes, störungsfreies Kundenerlebnis mit einer Echtzeitverfolgung seiner Bestellungen bis zur punktgenauen Lieferung. Dieser Anspruch hat sich inzwischen auch aufs B2B-Geschäft übertragen. Geschwindigkeit, Transparenz und Qualität sind der Schlüssel zum Erfolg.

Systemvielfalt kontra Transparenz.
Seit Jahrzehnten kämpfen Supply Chain Manager für mehr Prozesstransparenz – vom Rohstofflieferanten bis zum Endkunden -, um agiler und nachhaltiger auf Lieferkettenstörungen reagieren zu können. Viele Hoffnungen verknüpften sich mit der Digitalisierung.  Eine Vielzahl an Softwarelösungen ist heute bei Versendern, Spediteuren und Transporteuren im Einsatz: Global-Trade-Management (GTM), Transport-Management- (TMS), Warehouse-Management- (WMS), Enterprise-Ressource-Planning- (ERP) oder Carrier-Dispatch-Systeme, um nur einige zu nennen. Aber alle sind Insellösungen. Auch die von Maersk und IBM gegründete Shipping-Information-Pipeline auf Basis von Blockchain-Technologie.

Immer noch werden viele Informationen manuell, per E-Mail, Fax oder Telefon entlang der Lieferkette ausgetauscht. Der Grund: Zwischen den o.g. Systemen besteht wenig oder keine Interoperabilität. Dies verhindert, dass alle Beteiligten eine ganzheitliche Sicht auf ihre Lieferungen haben. Dadurch ist weder ein schnelles Erkennen noch eine proaktive Kommunikation von Lieferproblemen möglich. Insbesondere, wenn die Probleme bei Tier 2- oder Tier 3-Lieferanten ihren Ursprung haben.

Hinzu kommt, dass sich der Informationsbedarf und die Interpretation einzelner Dateninhalte je nach Supply-Chain-Partner erheblich unterscheidet. Grosse Vielfalt herrscht auch bei Datenstandards, Datenumfang und angewandter Semantik bei der SCM-Software, die sich bei den verschiedenen Parteien im Einsatz befindet. Zudem ist nicht jeder Partner in der Supply Chain bereit oder in der Lage, seine Daten an alle weiterzugeben – wegen unterschiedlicher ERP-Systeme oder eventuell aus Angst, die Daten werden nicht vertraulich behandelt.

Mangelnde Datenqualität.
Eine weitere Schwachstelle sind die riesigen Datenmengen, die durch die Lieferkette fliessen, und die Qualität dieser Daten. Wenn die Verschiffungsdaten- oder Ankunftszeiten (ETA) nicht stimmen oder Transportverzögerungen zu spät vom Transporteur übermittelt werden, können Ausliefertermine beim Endkunden nicht eingehalten werden. Zusätzlich fallen eventuell noch Demurrage, Detention und Storage Charges an. Und die Unternehmen müssen Pufferwarenbestände vorhalten, um eine 100%-ige Lieferfähigkeit sicherzustellen. Die meisten Softwarelösungen basieren auf statischen Rechenmodellen, in die beispielsweise nur die offiziellen Daten des Transporteurs oder Spediteurs einfliessen. Sind diese Daten nicht à jour, entsteht ein falsches Bild. Nur selten hat der Supply Chain Manager einen wirklichen Überblick über die IST-Situation und noch seltener kann er in die Zukunft schauen. Volle Supply-Chain-Transparenz („Visibility“) bleibt so Utopie.

Predictive Supply Chain Visibility.
Nur wenige Software-Anbieter sind in der Lage, die für den Verlader interessanten Daten dynamisch aus verschiedenen Quellen zu schöpfen (Reeder plus Satellitenmeldungen etc.), zu überprüfen, korrigieren, auszuwerten und bereinigt in die Modellrechnung einzuspeisen. Sie haben erkannt, dass die Datenqualität entscheidend für Transparenz und zukunftsorientierte Aussagen ist. Sie setzen auf eine „kontinuierliche“ Methodik und offene Plattform-Technologielösungen unter Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) und maschinellem Lernen (ML). In einem solchen selbst lernenden System werden Daten auch extrapoliert. Dadurch können Supply-Chain-Ökosysteme nicht nur in Echtzeit abgebildet, sondern auch mit grosser Präzision Vorhersagen für vorher definierte Ereignisse erstellt (Predictive Supply Chain Visibility) und die Lieferfähigkeit optimiert werden (Continuous Delivery Experience).

Continuous Delivery Experience.
Grosse Kunden in Industrie und Handel erwarten heute von ihrem digitalen Supply Chain Management, eine punktgenaue Lieferung der bestellten Produkte, eine Amazon-ähnliche Lieferfähigkeit und Kundenerfahrung – auch im B2B-Geschäft. Bei Lieferstörungen aus was immer für Gründen erwarten sie eine vorausschauende, schnelle Problembewältigung. Unternehmen wie Lenzing Gruppe, Georgia-Pacific und Koch Industries setzen daher auf innovative, offene Plattform-Technologielösungen, die Lieferketten digital so abbilden, dass eine hohe Kundenzufriedenheit auch im B2B-Geschäft erreicht wird. Für erfolgreiche Firmen steht der Kunde und das Kauferlebnis ganz am Anfang der Prozesskette und diese wird in entgegengesetzter Richtung organisiert wie im Traditionsunternehmen.

Ausblick.
Seit Anfang des Jahres erweist sich die Corona Virus-Epidemie als Stresstest für Lieferketten von/nach China. Die negativen Auswirkungen auf internationale Lieferketten-Ökosysteme, Produktionen und Kundenangebote zeigen sich bereits heute und werden noch zunehmen. Luft- und Seefrachtkrachtkapazitäten werden knapp. Die Frachtkosten steigen. Die Corona Virus-Epidemie fällt unter höhere Gewalt. Zusatzkosten, vor allem im Seeschiffsverkehr anfallende so genannte Detention-, Demurrage- und Storage-Charges, können vom Spediteur dem Verlader weiterberechnet werden.

Die Corona Virus-Epidemie ist auch ein Stresstest für Supply Chain Manager, die schnell und pro-aktiv auf die absehbaren Supply-Chain-Störungen reagieren müssen, um die Lieferfähigkeit des Unternehmens zu erhalten und genügend Waren für den Abverkauf zur rechten Zeit am richtigen Ort zur Verfügung zu haben. Nur eine hohe Datenqualität garantiert wirkliche Transparenz in der Lieferkette und macht zuverlässige Aussagen über Produktlieferungen möglich. Ein positives Kauferlebnis wiederum schafft Kundenbindung. (TK)

Quelle: LOGISTIK express Journal 2/2020

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