Die Wandlungsfähigkeit von Produktsystemen

Ein Fachbeitrag von Professor Michael ten Hompel und Andreas Trautmann zum Thema "Sensor Clouds und cyberphysische Systeme in Logistik und Produktion". 
 
Insbesondere in der variantenreichen Serienfertigung mit Tendenz zur "Losgröße 1" werden in den kommenden Jahren sprunghafte Produktionszyklen, steigende Unsicherheiten bei der Absatzplanung und ein Höchstmaß an Individualisierung die beherrschenden Themen sein. Damit rückt die Wandlungsfähigkeit und Skalierbarkeit zukünftiger Produktionssysteme in den Vordergrund. 
Dezentrale, autonome, cyberphysische Systeme in Verbindung mit cloudbasierten Softwaresystemen werden bis zum Ende des Jahrzehnts der Schlüssel für die Wandlungsfähigkeit und Skalierbarkeit von Produktionssystemen. Ihre Einführung führt zu einem Paradigmenwechsel in der Produktionssteuerung: Nach der Maximierung der Produktivität folgt die Maximierung der Wandelbarkeit von Produktion und Logistik. Dies bedingt einen Wechsel von der klassischen und starren Fließfertigung hin zu selbststeuernden Produktionseinheiten, die nach dem Prinzip des Internet der Dinge organisiert sind. Das bedeutet, dass Werkzeuge und Teile durch redundante, autonome Ressourcen, intelligente Sensorik und intermaschinelle Kommunikation ihren Weg eigenständig von Maschine zu Maschine finden. Aufträge werden bedarfsgerecht verteilt und Anlagen stellen durch lokale Entscheidungsfindung effiziente Betriebspunkte eigenständig ein. 
Um dies zu erreichen, müssen Maschinen, Teile und Transportsysteme ihre Umgebung über intelligente Sensorik wahrnehmen. Im Zuge dieser Entwicklung zeichnet sich der Einsatz von 3D Kameras als eines der kommenden Themen ab. Mit ihrer Hilfe werden beispielsweise 3D-Konturen erkannt und die Position und Lage von Werkstücken erfasst, um sie automatisiert zu palettieren oder Maschinen zu bestücken. 
Das Internet der Dinge liefert bereits heute Lösungen, um entsprechende Daten auf RFID Transpondern am Ladehilfsmittel mitzuführen, vor Ort auszuwerten und zur dezentralen Materialflusssteuerung zu nutzen. Dazu vernetzen sich Elemente automatischer Förderanlagen, Fahrerloser Transportsysteme (FTS) und Regalbediengeräte untereinander, um Routen zu finden und Zielsteuerung zu ermöglichen. 
Neben dieser autonomen Steuerung der klassischen, stetigen oder schienengeführten Förderelementen erleben FTS durch die Entwicklung neuer Technologien eine Renaissance. Durch preiswerte Steuerungssysteme, neue 3D Sensoren und immer leistungsfähigere Antriebe und Energiespeicher werden sie zur Alternative gegenüber konventioneller und unflexibler Fördertechnik. Neue FTS wie die "Zellularen Transportsystemen" des Fraunhofer IML in Dortmund interagieren zu Dutzenden wie ein Schwarm und ersetzen auch die Regalbedientechnik, da sie in der Lage sind, in ein Regal zu fahren, sich einen Lift zu rufen und den gewünschten Behälter auf jeder Ebene ein- und auszulagern. 
Diese, auch als vierte industrielle Revolution (Industrie 4.0) bezeichnete Entwicklung bedingt neben zunehmender Autonomie auf der operativen Ebene ein erheblich komplexeres Beziehungsgeflecht auf der normativen Ebene mit ihren Stamm-, Bestands- und Bewegungsdaten. Um den cyberphysischen Systemen auf der operativen Ebene autonome Entscheidungen zu ermöglichen wird das Datenaufkommen in Summe steigen und es stellt sich die Frage, wie diese Daten gespeichert, verarbeitet und verteilt werden können. Hier zeichnet sich klar der Einsatz cloudbasierter Systeme als Ultima Ratio ab. Eine cloudbasierte IT Architektur stellt Rechen- und Speicherkapazität bedarfsgerecht bereit und kann in weiten Bereichen skaliert werden. Die Bereitstellung der entsprechenden Hard- und Software erfolgt in guten Clouds weitgehend automatisiert und können heute auf Knopfdruck, auf Wunsch auch über die Grenzen eines Rechenzentrums hinweg, gemanagt werden. Neueste Entwicklungen erlauben beispielsweise das "verschieben" virtueller Maschinen von einem Rechenzentrum in ein anderes per Drag&Drop. So lassen sich Kapazitäten effizient ausnutzen und weltweit verwalten. 
Die Cloud erscheint auf den ersten Blick als Widerspruch zum Paradigma der Dezentralisierung im Sinne eines Internet der Dinge, in dem Daten lokal verarbeitet werden sollen. Bei genauerer Betrachtung ist dies jedoch ein folgerichtiger Schritt: Es wird in den nächsten Jahren erarbeitet werden müssen, welche Daten lokal (auf einem RFID Tag) und welche im Netzwerk vorgehalten werden. Als Faustregel kann festgehalten werden, dass aktuelle Statusinformationen (z.B. Identifikation, Ort, Geodaten, aktueller Auftrag und Auftragsstatus) sinnvoll lokal gespeichert bzw. in Echtzeit erfasst werden, um im Falle eines Netzwerkausfalls im Zugriff zu sein. In Verbindung mit intelligenten, dezentralen Steuerungen oder mobilen Handgeräten ist dadurch ein hohes Maß an Redundanz gegeben und somit das Risiko eines Single Point of Failure reduziert.
Transaktionen und komplexe Auftragsdaten hingegen werden vornehmlich in der Cloud gespeichert, da hier die Datensicherung und Archivierung zuverlässig sichergestellt werden können. Außerdem können cloudbasierte Dienste auf die Daten zugreifen, um beispielsweise den Warenausgang beim Lieferanten zu buchen und direkt an die Produktion des Herstellers zu avisieren. Die Cloud Plattform Logistics Mall (www.logistics-mall.de) spezifiziert aus diesem Grund ein zentrales Repository, in das Geschäftsobjekte abgelegt werden, um dort von Diensten und Apps gefunden und verarbeitet zu werden. Die Einsatzfälle für Kombinationen aus CPS und Cloud-Technologie sind vielfältig: 
 
CPS-basierte Sensor-/Aktornetzwerke 
Die zunehmende Verbreitung von cyberphysischer Systeme in allen Bereichen der Industrie macht deren effiziente Vernetzung unabdingbar. Auf der einen Seite besteht in Zukunft eine direkte Kommunikation zwischen Sensoren und Aktoren. Andererseits besteht zum Beispiel für die Produktionssteuerung die Notwendigkeit, auf die erzeugten Daten zugreifen zu können. Die Lösung wird in der Verbindung von Sensor-/Aktornetzwerken [3, 10] mit cloudbasierten Diensten liegen. Besonders die gleichzeitige und gekoppelte Informationsverarbeitung heterogener (intelligenter) Sensoren ist ein Feld aktueller Forschung [25] und wird zur Entwicklung spezieller Sensorclouds führen. 
 
Schlanke Produktionsplanung 
Werden heutige PKW-Montagelinien für die variantenreiche Fließfertigung zentral in mehreren aufeinanderfolgenden Schritten geplant (Produktionsvolumenplanung, Wochenprogrammplanung, Tagesprogrammplanung Auftragsreihenfolgeplanung Personaleinsatzplanung), werden sich in Zukunft zum Beispiel bei der Produktion von Elektrofahrzeugen aufgrund der schnelleren Innovationssprünge und der deutlich kleineren Stückzahlen schlankere Programmplanungskonzepte durchsetzen (siehe Ansätze zur Digitalen Fabrik/Smart Factory [14]). Deren spezielle Anforderungen bzgl. Betrieb, Skalierbarkeit, Robustheit und Wirtschaftlichkeit erfordern ein grundsätzliches Umdenken bei der Fertigungsplanung und -steuerung. Dies kann durch autonome, hochflexible Materialflusseinheiten erreicht werden, die als Cyber-Physical Systems ausgeführt sind [15] und zu wandlungsfähigen Fertigungsstrukturen führen [29]. Gespeist werden diese Systeme aus einer übergreifenden globalen Programmplanung (Wochenprogrammerstellung), die alle wesentlichen Restriktionen und Ziele berücksichtigt, indem sie die Auftragsdaten der Kunden und Lieferanten aus der Cloud abruft und aufbereitet zur Verfügung stellt. Das Ergebnis der Planung definiert die Last für das dezentrale Produktionssystem, welches sich nach dem Prinzip des Internet der Dinge selbst lokal optimiert und somit ohne eine zentrale Reihenfolgeplanung auskommt. Die Vorteile liegen in der Flexibilität, der Wandelbarkeit und der besseren Reaktion auf eintretende Risiken. 
 
 
Verweise: 
[3] R. Brooks and S. S. Iyengar. Multi-sensor fusion: fundamentals and applications with software. Prentice-Hall, Inc., 1998. 
[10] T. C. Henderson, M. Dekhil, R. Kessler, and M. Griss. Sensor fusion. Control Problems in Robotics and Automation, pages 193–208, 1998. 
[14] A. Kuhn, M. Toth, and A. Wagenitz. Integrierte Versorgungsplanung im Rahmen der digitalen Logistik. In Michael Schenk, editor, Digital Engineering – Herausforderung für die Arbeits- und Betriebsorganisation, pages 175–193. Gito, Berlin, 2009. 
[15] E. A. Lee. Cyber physical systems: Design challenges. In International Symposium on Object/Component/Service-Oriented Real-Time Distributed Computing (ISORC), 2008. Invited Paper. 
[25] H. Toshihiro, W. Tomotaka, O. Yuuki, U. Norie, M. Kouichi, and O. Hiromi. A Multi-Sensing-Range Method for Position Estimation of Passive RFID Tags. In Proceedings of the 2008 IEEE International Conference on Wireless & Mobile Computing, Networking & Communication, pages 208–213, 2008. 
[29] H.P. Wiendahl, J. Reichardt, and P. Nyhuis. Handbuch Fabrikplanung: Konzept, Gestaltung und Umsetzung wandlungsfähiger Produktionsstätten. Hanser, 2009.

Quelle: MyLogistics

Portal: www.logistik-express.com

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