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Krisenmanagement im Angesicht einer Katastrophe

Was sich derzeit zwischen Syrien, dem Mittelmeer und Europa abspielt, ist eine humanitäre Katastrophe und der größte Flüchtlingsstrom seit dem unsäglichen Zweiten Weltkrieg. Doch so schlimm diese Tragödie aus menschlicher Sicht ist, auch für die Wirtschaft stellt sie ein großes Problem dar. Plötzlich wieder eingeführte Grenzkontrollen sind nur ein Beispiel dafür.

Krisenmanagement bezeichnet den systematischen Umgang mit Krisensituationen – also problematischen Entscheidungssituationen. Ein Blick auf die aktuelle Situation zeigt: hier geht es bereits um Katastrophenmanagement – die Bewältigung eines folgenschweren Unglücksereignisses, an dem der europäische Gedanke, das Ideal der europäischen Einheit, zu zerschellen droht. Eine Katastrophe im engeren Sinn ist eine länger andauernde, großräumige Schadenlage, derer die normalen Blaulichtorganisationen nicht angemessen Herr werden können und die nur mit Hilfe anderer Regionen oder Länder bewältigt werden kann. Und ohne pessimistisch sein zu wollen: genau das haben wir gerade, und es wird sich nicht so schnell ändern.

Panikreaktion
Gut 30 Jahre nach Unterzeichnung des ersten Schengener Abkommens ist die freie Fahrt nun plötzlich wieder vorbei, an den Grenzen bilden sich kilometerlange Staus. Und nicht nur dort, die Transitrouten Richtung Deutschland kommen teilweise zum Erliegen, der Zugverkehr wurde eingestellt. Tausende LKW-Fahrer verbringen ihre Lenkzeit mit Stop-and-go-Verkehr, Verspätungen sind an der Tagesordnung. Und das wird teuer: „Ausgehend von einer Wartedauer von rund 3 Stunden ergeben sich im Schnitt geschätzte Gesamt-Zusatz-Wartekosten von rund 2,44 Mio. Euro pro Werktag für die Branche“, rechnet WKÖ-Bundesspartenobmann Alexander Klacska schon Mitte September vor. Als Sofortmaßnahme fordert er eine temporäre Ausdehnung der gesetzlich erlaubten Lenkzeiten und eine Lockerung des Wochenendfahrverbotes, denn: „Es kann nicht sein, dass Fahrer es nicht rechtzeitig heim zur Familie schaffen, nur weil sie aufgrund der Grenzwartezeit eine Zwangspause einlegen müssen.“ Als Vorbild nennt er dabei Frankreich, wo aufgrund der Lage in Calais ähnliche Maßnahmen ergriffen wurden – denn seiner Einschätzung nach wird es langfristig wieder Grenzkontrollen in ganz Europa geben.

Am Laufen halten
Um eine Einschätzung der Lage durch die Betroffenen direkt zu erhalten, hat Logistik express am 15. September einen Rundruf gestartet. Gerhard Haas, Operations Manager AT der DHL Freight, bestätigt, die aktuellen Entwicklungen genau zu beobachten und meint: „Wir haben frühzeitig Maßnahmen eingeleitet und somit sichergestellt, dass unser Netzwerk weiterhin planmäßig funktioniert. Wo erforderlich, haben wir unsere Routen angepasst, um möglichen Wartezeiten bereits im Vorfeld auszuweichen. Darüber hinaus stehen wir im engen Kontakt mit den zuständigen Behörden in den betreffenden Ländern, um auf aktuelle Entwicklungen schnellstmöglich zu reagieren.“ Zusätzliche arbeite man an Alternativplänen, um mögliche Beeinträchtigungen auch für die Zukunft zu vermeiden, zumindest aber zu minimieren. Als internationales Transport- und Logistikunternehmen ist auch Gebrüder Weiss direkt von der derzeitigen Situation an den Grenzen betroffen. „Wir hatten es in den letzten Tagen in vielen Fällen mit Komplettsperrungen an wichtigen Grenzübergängen zu tun. Oft kommt es derzeit zu mehrstündigen Verspätungen. Wir reagieren, indem wir sprichwörtlich um-disponieren, Routen verlegen oder früher losfahren. Vor allem aber ist es derzeit wichtig, unsere Kunden über die Unregelmäßigkeiten in Kenntnis zu setzen. Durch Flexibilität und eine offene Kommunikation können wir die Planungssicherheit wieder erhöhen.“

Auch Mag. Markus Formann, Pressesprecher bei Hödlmayr International, war für eine Stellungnahme erreichbar: „Zunächst möchten wir vorausschicken, dass uns die gegenwärtige humanitäre Katastrophe sehr betroffen macht. Wir appellieren daher an die verantwortlichen Politiker, rasch entsprechende Voraussetzungen und Vereinbarungen zu treffen um den Flüchtlingen akzeptable und menschenwürdige Umstände zu ermöglichen. Unser Unternehmen ist durch die Flüchtlingsströme und die damit verbundenen wiedereingeführten Grenzkontrollen deutlich beeinträchtigt. In den letzten Tagen waren wir mit Grenzwartezeiten zwischen Ungarn und Österreich sowie Österreich und Deutschland von durchschnittlich drei Stunden konfrontiert. Rund die Hälfte unserer 610 LKW wird im internationalen Transport eingesetzt. Für uns gibt es kaum Strategien gegen diese Situation, da unsere Fahrzeugtransporte mit Spezialfahrzeugen durchgeführt werden, die nicht ohne Weiteres am Markt verfügbar sind und somit nicht flexibel aufgestockt werden können. Auch unsere Bahnverkehre sind betroffen.“ Gerald Mayrwöger, Geschäftsführer der Sparte Transport & Logistik bei Schachinger Logistik, berichtet gar von Grenzwartezeiten bis zu sechs Stunden. „Dadurch sind vereinbarte Lieferzeiten natürlich nicht haltbar – und auf den Kosten bleiben wir sitzen. Natürlich wird der Kunde über Verzögerungen informiert, damit beispielsweise am Montageband andere Arbeitsschritte vorgezogen oder Prozessabläufe abgeändert werden, aber das geht natürlich nur bedingt. Durch Zweitfahrer versuchen wir, die Lieferzeiten einzuhalten, aber das funktioniert natürlich nur bedingt und birgt sehr viel Dispositionsaufwand. Die Versorgung via Straßentransport muss flott gehen, die Anlieferungen sind sehr knapp getaktet. Ein Umfahren ist aus unserer Sicht leider auch nicht möglich.“

Was, wenn es so bleibt?
Auch wenn man derzeit von einer Ausnahmesituation spricht, wer kann heute sagen, dass die Grenzkontrollen nicht länger bleiben? Solange der Krieg in Syrien nicht beendet ist und die Schreckensherrschaft von Terrororganisationen in der gesamten Region anhält, wird der Flüchtlingsstrom wohl kaum versiegen. Und auch wenn es scheinbar für den Großteil der Neuankömmlinge das einzig vorstellbare Endziel ist, kann Deutschland nicht alle Flüchtlinge aufnehmen – und wird sich irgendwie gegen den unbegrenzten Zuzug wehren. „Kontrollen an Grenzen und damit verbundene Aufenthalte stellen selbstverständlich eine Herausforderung in der Gestaltung von Transportrouten dar. Wir in der Speditions- und Logistikbranche sind es gewohnt, uns auf geänderte Rahmenbedingungen einzustellen“, versichert Haas. Vorsichtig optimistisch zeigt sich Gebrüder Weiss: „Es sieht ja nicht danach aus, dass dieser Zustand zum Dauerstand wird. Aber angenommen, es käme so, dann müsste sich die Branche eben in diesem Falle höherer Gewalt auf die neuen Rahmenbedingungen einstellen. So wie sie das immer getan hat. Ein grenzenloses Europa ist eine Entwicklung der jüngsten Vergangenheit. Die allermeisten Spediteure wissen, wie man mit Grenzen umgeht. Die primär Leidtragenden dieser hypothetischen Entwicklung wären – im ersten Schritt – die verladenden Unternehmen.“ Formann ist mit der Situation auch nicht glücklich: „Unsere eingespielten und synchronisierten Verkehre können nicht mehr aufrechterhalten werden. Die Wartezeiten und Stauungen an den Grenzen sind als Lenk- bzw. Arbeitszeit zu klassifizieren, das heißt, unsere LKW kommen mit entsprechender Verspätung bei den Kunden bzw. Ladestellen an. Es entsteht ein wahrer Dominoeffekt, da deswegen auch die anschließenden Transportaufträge nicht mehr zeitgerecht durchgeführt werden können.“

Und wer bezahlt?
Im Endeffekt dreht sich doch alles ums Geld. Oftmals haben die Dienstleister mit ihren Kunden langfristige Verträge mit fixen Tarifen, weswegen die Kosten für zusätzliche Fahrer, mehr Dieselverbrauch durch Stau-Stehen usw. in den meisten Fällen das Transportunternehmen schlucken muss. „Wenn die Planungssicherheit abnimmt, steigen die Logistikkosten. Werden diese Kosten umgelegt, dann könnte das im Endeffekt auch die Verbraucher treffe. Aber das ist reine Hypothese“, gibt man sich bei Gebrüder Weiss noch vorsichtig, „Wir alle haben die Vorzüge eines grenzenlosen Europas kennengelernt. Und jetzt sind wir auch alle gefordert, nicht gleich die Flinte ins Korn zu werfen, sondern diese Notsituation eben als solche anzunehmen. Im Vergleich zu den armen Menschen auf der Flucht halten sich unsere Probleme noch sehr im Rahmen.“ Formann: „Die Wartezeiten bedeuten eine enorme Kostenbelastung. Abgesehen von erzwungenen Strafen wegen Lenkzeitüberschreitungen (wenn der Fahrer mit dem LKW im Stau steht!) entstehen erhebliche Zusatzkosten im Personal- und LKW-Bereich. Wir wissen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht, ob bzw. von wem wir diese Kosten ersetzt bekommen werden. Wir fordern daher entsprechende Maßnahmen, um diese Zusatzbelastungen zu mindern. Eine Senkung der Mauttarife, die Flexibilisierung der Wochenend- und Feiertagsfahrverbote sowie die vorübergehende Lockerung von regionalen Fahrverboten könnten unseren Zusatzkosten entgegenwirken.“

Menschlichkeit
Trotz aller Ärgernisse hat sich in den letzten Wochen jedoch auch gezeigt, wie hilfsbereit sowohl Einzelpersonen als auch Unternehmen sind. Wo die Politik scheinbar in Schockstarre verfiel, startete eine unglaubliche Reihe von Hilfsaktionen, unzählige Sachspendenlieferungen fanden ihren Weg zu den Flüchtlingslagern, Bahnhöfen und Grenzen. Damit die Spendengüter nicht Wind und Wetter ausgesetzt sind, braucht es rasch Lösungen – wie etwa Container. Mayrwöger: „In der sehr angespannten Flüchtlingssituation am Grenzübergang Nickelsdorf und an den Bahnhöfen in Wien fehlt es zwar nicht an Hilfsbereitschaft der Bevölkerung, aber sehr wohl an der notwendigen Koordination. Umso erfreulicher ist es, dass die Schachinger Baulogistik mit dem Transport eines Containers vom Hafen Wien zum Grenzübergang Nickelsdorf direkt Hilfe leisten konnte. Der am 09. September verbrachte Container dient als Depot für Decken, Lebensmittel und andere Hilfsgüter.“

Ist das Leben nicht surreal? Während ich hier bequem an meinem Schreibtisch in Wien sitze und diesen Artikel schreibe, sitzen nur wenige Kilometer entfernt Menschen auf dem kalten Boden, die oft über nicht mehr als das verfügen, was sie am Körper tragen. Die nicht wissen, was sie am nächsten Tag erwartet. Die schreckliche Dinge überlebt haben und von der Hoffnung auf ein besseres Leben hunderte beschwerliche, gefährliche Kilometer weit getragen wurden. Über das Meer, das bereits zum Massengrab wurde. Über Länder, die sie wie Vieh weitertrieben, um sie möglichst schnell wieder loszuwerden. Egal, welche himmlische Macht dafür verantwortlich war: DANKE, dass ich in Österreich geboren bin. Der Rest ergibt sich von selbst.

Quelle: LE-4-2015

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