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Mehr Schein als Sein

Wenn Unternehmensvorstände bei Bilanzpräsentationen in die Kamera lächeln, ist die Welt in Ordnung. Der Gewinn wurde gesteigert, die Aktionäre sind glücklich. Niemand hat Grund zu klagen. Niemand? Das Fähnchen „soziale Nachhaltigkeit“ weht schnell von den Dächern, wenn die Drecksarbeit einfach ausgelagert wird. Wo kein Kläger, da kein Richter? 

Vorweg: mir ist klar, ohne Gewinn kann ein Unternehmen nicht überleben. Und ich freue mich, wenn jemand Erfolg hat. Auch ist es in meinen Augen positiv, dass Kunden teilweise nicht mehr nur auf den Preis schauen, sondern auch hinterfragen, wie etwas produziert oder ihre Dienstleistung erbracht wird. Nachhaltigkeitsberichte sind dabei eine gute Orientierungshilfe, Auditierung und Zertifizierung tun ihr übriges. Allerdings hat diese gestiegene Aufmerksamkeit für das „wie“ auch einen kleinen Trend ausgelöst, der mir schwer im Magen liegt. Beispiel gefällig? Vor Kurzem hätte ich beinahe eine Kollision mit einem Lieferfahrzeug eines an dieser Stelle nicht genannten Paketdienstes gehabt, der mit überhöhter Geschwindigkeit gegen die Einbahn unterwegs war. Ein anderes Mal erwartete ich eine Lieferung und versuchte, den Fahrer über die mir bekannt gegebene Handynummer zu erreichen – allerdings war das dann gar nicht mein Fahrer, weil jemand anderes für ihn unterwegs war. An die ramponierte Schachtel, die einfach in die Wiese neben dem Haustor „gelegt“ wurde, weil keiner da war, möchte ich gar nicht mehr denken. Ich fürchte, ich bin nicht die einzige, der es so geht. Doch wie kommt es dazu?
 
Bezahlung nach Leistung
Ganz ehrlich: auch ich ärgere mich über Tariferhöhungen, wofür auch immer. Wer tut das nicht? Leistungsbezogene Bezahlung, etwa durch Provisionen, ist auch nichts Neues. In manchen Branchen ist das auch durchaus sinnvoll und ein Anreiz für die Mitarbeiter, ihr Bestes zu geben und auf potenzielle Kunden offen zuzugehen, statt Däumchen zu drehen – beispielsweise im Einzelhandel. Kommen wir zurück, zu meinen Eingangsbeispielen: für die Zusteller ist Zeit wirklich bares Geld, sie werden pro ausgelieferter Sendung bezahlt. Treffen sie niemanden an, gibt es keine Bezahlung. Da kann ich mir durchaus vorstellen, dass gegen Ende des Tages, wenn der Wagen noch recht voll ist, die Hemmschwelle doch sinkt, „in Vertretung“ zu unterschreiben und das Paket einfach liegen zu lassen. Oder einfach eine Abkürzung gegen die Einbahn zu nehmen, wird schon keiner entgegenkommen. Meiner Beobachtung nach sind die meisten dieser Fahrer selbständig, noch nicht besonders lange im Lande – zumindest lassen ihre Sprachkenntnisse darauf schließen – und stehen unter enormem Druck, Geld für ihre Familien zu beschaffen. Für Selbständige gibt es keinen Mindestlohn, und Kollektivvertrag schon gar nicht. Als Subunternehmer tragen sie die Verantwortung für systematische Gesetzesverstöße – geregelte Arbeitszeiten und Tempolimits kennen solche Fahrer wohl nicht – das Unternehmen, dessen Name auf dem Lieferwagen prangt, ist fein raus und schreibt Millionengewinne. Es sind aber nicht nur die Paketboten, die so arbeiten – auch manche großen Speditionen bedienen sich vermehrt aus Kostengründen billiger Subunternehmer. 
 
Was tun?
Natürlich darf man nicht alle über einen Kamm scheren! Preiskämpfe gibt es überall, aber faire Bezahlung und das Motto „leben und leben lassen“ finden sich durchaus, man muss nur suchen – und vielleicht ein bisschen kritisch hinterfragen, auch wenn es unangenehm ist. Wer eine weiße Weste und ein reines Gewissen hat, der legt auch seine Geschäftspraktiken offen. Und für die raffgierigen, jegliche Verantwortung abstreifenden Konzerngrößen hätte ich eine Spitzenidee: sie einen Tag lang – denn eine Woche oder gar länger würden sie wohl nicht aushalten – den Job ihrer Fahrer ausüben lassen. Bei gleicher Entlohnung. Allerdings befürchte ich, dass auch das nichts ändern würde. Denn hinter der Gewinnmaximierung auf Kosten der untersten Arbeitnehmerschicht stehen die Interessen der Aktionäre oder Teilhaber, Investoren oder Banken. Und auf der anderen Seiten die Kunden. Ein bekanntes Onlineversandhaus bietet ab einer gewissen Einkaufssumme Gratisversand an. Aber der Versand ist nun mal nicht gratis, und wer glaubt, dass das Versandhaus freiwillig einen Großteil seiner Marge herschenkt, ist wirklich naiv. Es liegt also wieder einmal an uns allen: denn niemand hat nur eine einzige Funktion, jeder Fahrer ist auch Konsument, auch ein Botendienstunternehmer bestellt irgendwann irgendwo etwas, das geliefert wird. Bald kommt Weihnachten, eine Zeit, in der besonders viel gekauft und verschickt wird. Vielleicht ist das ein guter Anlass, bei den Versandkosten nicht zu sparen. 
 
Kostenkampf – Lebenskrampf
Die gehetzten Paketfahrer sind nur ein Beispiel, wo Gewinnmaximierung und Kosteneinsparungen sich in weiterer Folge auf die Lebensfähigkeit des letzten (und schwächsten) Gliedes in der Kette auswirken. Auf der gegenüberliegenden Seite der Auslieferung steht die Produktion. Negativbeispiel hinsichtlich schlechter Arbeitsbedingungen ist mit Sicherheit die Technologiebranche mit der Fertigung in Asien. Pünktlich vor Weihnachten erschienen die neuen Versionen des Apple Iphones und des Apple Ipads. Auch in meinem Haushalt gibt es einige der Produkte mit dem angebissenen Apfel, in meinem Bekannten- und Verwandtenkreis kaum jemand, der nicht zumindest einen Ipod sein Eigen nennt. Bei nicht gerade billigen Anschaffungspreisen sollte man doch davon ausgehen können, dass ein Weltkonzern wie Apple es schafft, für faire Arbeitsbedingungen bei seinen Zulieferern zu sorgen. Doch nicht nur ein Mal geisterten Horrormeldungen über Foxconn, wo Iphone und Ipad gefertigt werden, durch die Medien. Ich bin nicht sicher, was schlimmer ist: die Tatsache, dass laut neuester Studie des Economic Policy Institutes (EPI) die arbeitsrechtlichen Verstöße verschleiert und beschönigt statt verhindert würden, oder dass abgesehen von Apple noch Acer, Amazon.com, Cisco, Dell, Hewlett-Packard, Intel, Microsoft, Motorola Mobility, Nintendo, Nokia, Sony, Toshiba und Vizio auf der Großkundenliste von Foxconn stehen. Interessanterweise ist davon weitaus seltener zu lesen. Die „Geiz ist geil“-Mentalität führt zu einer Preisschlacht, die auf dem Rücken der Armen ausgetragen wird. Aber wen interessiert ein verzweifelter chinesischer Arbeiter, der vom Dach seines Schlafbunkers in den Freitod springt, weil er keine Perspektive sieht, wenn ein 60-Zoll-Flatscreen-Superschnäppchen das nächste Fußball-Ländermatch im Fernsehen in Full-HD-Supersurroundsound zum Erlebnis macht. 
 
Armut und Utopie
Man muss aber gar nicht so weit in die Ferne schweifen, um Armut zu finden. Anfang November präsentierte Sozialminister Rudolf Hundstorfer den österreichischen Sozialbericht 2011 bis 2012, dem zu Folge die Anzahl der von manifester Armut Betroffenen sich seit 2005 verdoppelt hat. Das bedeutet, doppelt so viele Menschen verdienten weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens (je nach Quelle zwischen 1.350 und 1.600 Euro Brutto, Anm.) und waren finanziell ausgegrenzt (Deprivation, Anm.). Können Sie sich vorstellen, nicht zum Arzt gehen, keine neue Kleidung kaufen oder nicht heizen zu können, weil es sich einfach nicht ausgeht? Mehr als eine halbe Million Menschen in Österreich ist arm, hinzu kommen über eine Million Armutsgefährdete. Dem gegenüber stehen die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung, denen etwas mehr als die Hälfte des gesamten Vermögens sowie 61 Prozent aller Immobilien gehören. Wie das zusammenhängt? Würde – auf Kosten des Gewinnes der Großkonzerne – den Arbeitern ein fairer Lohn gezahlt, müssten die Produktionen nicht nach Asien verlegt werden. Mehr Fabriken und Industrie im Inland (die zudem wesentlich umweltverträglicher wäre als in manch anderen Ländern) würden mehr Arbeitsplätze bedeuten. Da Arbeitslose naturgemäß besonders leicht von Armut gefährdet sind, würden weniger Arbeitslose im Umkehrschluss weniger Arme bedeuten. Mehr Produktion im Lande würde eine Verschiebung der Transportströme mit sich bringen, statt Fertigprodukten bräuchten wir mehr Rohstoffe, und die Wege der Endprodukte wären wohl kürzer, beispielsweise vermehrt innereuropäisch. Das bedeutet weniger Spritverbrauch und Abnutzung durch geringere Kilometerleistung – die Differenz könnte man dem Fahrer geben. Bleibt nur noch, bei den Rohstoffproduzenten für faire Bedingungen zu sorgen. Und die Reichen davon zu überzeugen, mitzuspielen. Man wird ja wohl noch träumen dürfen…

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