Wie wird Künstliche Intelligenz den Alltag der Menschen in der Zukunft beeinflussen?
In Wahrheit war es auch schon vor GhatGPT längst der Fall: Wir sind von Systemen der Künstlichen Intelligenz umgeben, die unseren Alltag beeinflussen oder auch lenken. Was wird da erst die Zukunft bringen? Und inwieweit kann KI unser Leben bereichern – oder unsere Lebensweise signifikant in Gefahr bringen?
Autor: Philip Hautmann.
Google Maps macht unseren Weg zur Arbeit einfacher, indem es Staus voraussagt. Das Auto dazu verwenden wir möglicherweise über eine Car-Sharing-App. Chatbots versuchen, unsere Anfragen an Institutionen zu beantworten. Algorithmen schlagen uns vor, welche Serie wir uns auf Netflix oder welches Video wir uns auf YouTube als Nächstes ansehen sollen. Eben korrigiert mir die Rechtschreibprüfung die falsche Schreibweise von „YouTube“ im letzten Satz. Hinter all dem steckt Künstlichen Intelligenz.
Bereits vor ChatGPT konnte Künstliche Intelligenz einfache Artikel selbstständig schreiben. Autonome Fahrzeuge, die sicherer unterwegs sind als solche mit menschlichen Fahrern, sind eine Realität. Auf KI basierende Animationsleistungen in Filmen werden immer atemberaubender. Und Fake-Videos auf YouTube, die auf der täuschend echten Computeranimation von echten Personen beruhen, immer besser – und, aufgrund ihres Manipulationspotenzials, womöglich immer gefährlicher. Zur universellen Marktreife gelangt sind all diese Innovationen einstweilen noch nicht. Aber im Lauf der nächsten beiden Jahrzehnte sollten wir genau damit rechnen. Wie werden diese Anwendungen von Künstlicher Intelligenz kurz- und mittelfristig daher unseren Alltag, unsere Lebensweise beeinflussen?
XR, Lernen, Erleben, Einkaufen
Bereits jetzt – und vor allem, was jüngere Generationen anlangt – spielt sich ein Gutteil unseres „Alltags“ im Netz, in virtuellen Welten ab. Facebook-Gründer Mark Zuckerberg investiert stark in sein Metaverse, das ein noch tieferes Eintauchen in virtuelle Welten verspricht. Gleichermaßen wird die vorhandene Realität wohl immer mehr „augmented“: Entsprechende Devices könnten uns zusätzliche Informationen zur Geschichte der Akropolis anzeigen, vor der wir eben stehen – sollten wir unseren Griechenland-Urlaub dann eben doch in der realen und nicht nur (genauso gut) in der virtuellen Welt durchführen. XR ist der Überbegriff für Virtual Reality, Augmented Reality und Mixed Reality – und wohl ein Begriff der Zukunft.
Künstliche Intelligenz wird uns beim Lernen helfen – beziehungsweise die Lehrenden beim Unterrichten – insofern Künstliche Intelligenz Wissen ebenso vermitteln als auch abprüfen kann. Im besonderen Maße dürfte das Menschen in Gebieten zugutekommen, wo Lehrer-mangel herrscht. Kinder könnten sich virtuelle Spielgefährten (oder Lehrer) erschaffen. Neue Möglichkeiten des Infotainment – Wissensvermittlung mit Unterhaltung zu verknüpfen – könnten sich auftun: Beziehungsweise könnte ein goldenes Zeitalter dieser spielerischen Wissensvermittlung eben mit dem KI-Zeitalter erst anbrechen. Umgekehrt besteht natürlich die Möglichkeit, dass wir in immer raffinierter, animierte und mit uns interagierende, uns immersiv ergreifende Spielwelten eintauchen.
„Gezieltes Einkaufen“ wird gerade in der aktuellen Krise zum Leitbild. Dabei ist es auch ein Wert an sich, um Ressourcen zu schonen und Geld zu sparen. Auch dabei kann uns die Künstliche Intelligenz helfen, indem sie uns besser auf uns zugeschnittene Angebote vermittelt – oder Produzenten und Händler
rechtzeitig auf Marktentwicklungen oder auf Versorgungsengpässe vorbereitet.
Bereits heute stellen die B2B-Plattformen wlw (ehemals «Wer liefert was») und EUROPAGES große Mengen von Daten zur Verfügung, die zur Automatisierung in der Logistik genutzt werden könnten. Das Unternehmen Visable als Träger der beiden Plattformen nutzt selber KI-Programme zur Pflege der Daten, beispielsweise zur Bereitstellung von Schlüsselwörtern für die Datensuche oder zur Eliminierung von Daten-Duplikaten.
Enorme Fortschritte in der Medizin
Groß und berechtigt sind die Hoffnungen, die man auf KI-Anwendungen im medizini-schen Bereich setzt. Bereits jetzt kann KI Mammografien, radiologische Aufnahmen oder allgemein medizinische Daten gleich gut oder besser lesen und Krankheiten identifizieren wie Ärzte aus Fleisch und Blut. Dies aufgrund der riesigen Datenmengen, die sie verarbeiten und die jeden Erfahrungsschatz eines menschlichen Arztes bei weitem übertreffen. KI-gestützte Roboter können bereits jetzt so filigran arbeiten, dass sie menschliche Chirurgen unterstützen oder sogar selbstständig chirurgi-sche Eingriffe durchführen können. Somit kann durch KI vor allem in unterversorgten Gebieten die medizinische Betreuung der Bevölkerung stark ausgeweitet und verbessert werden.
Jeder Mensch und auch jede Krankheit sind bekanntlich bis zu einem gewissen Grad individuell – und durch ihre Fähigkeit, das individuelle menschliche Genom zu lesen wie eine Unmenge an Daten zur individuellen Krankengeschichte zu verarbeiten, kann KI Krankheiten viel maßgeschneiderter und auf den Patienten abgestimmt behandeln. Und vor allem: individuelle Wirkstoffe ent-wickeln. Die Künstliche Intelligenz wird wohl eine pharmazeutische Revolution einleiten. Dies, indem sie eine ungeheure Vielzahl von Möglichkeiten untersuchen und auch testen kann – vielleicht werden auch grausame Tierversuche durch die Künstliche Intelligenz immer weniger notwendig.
Computer im Gehirn und autonomes Fahren
Und nicht zuletzt, was die Betreuung von alten oder kranken Personen betrifft, werden Systeme der Künstlichen Intelligenz wohl wertvolle Dienste leisten. Roboter können Betreuungsaufgaben übernehmen, eine Alexa-ähnliche KI kann Personen mit Alzheimer helfen, ihren Alltag besser zu bewältigen. Intelligente Implantate könnten gelähmten Personen ermöglichen, ihre Gliedmaßen wieder zu bewegen. Allgemein dürften Chip-Implantate und Computer-Gehirn- Schnittstellen breit zum Einsatz kommen. So könnten beim Lernen helfen, die Gedächtnisleistung verbessern, Posttraumatische Belastungsstörungen oder Suchterkrankungen bekämpfen: die Möglichkeiten scheinen zumindest in der Theorie grenzenlos. Überhaupt kann KI uns zu einer gesünderen Lebensführung anleiten. Freilich: sofern wir das freilich auch wollen – doch ergeben sich hier sicherlich Möglichkeiten zu neuartigen Anreizsystemen. Das alles ist zwar noch nicht da, aber keine bloße Utopie mehr.
Autonomes Fahren gilt als der „heilige Gral“ der heutigen KI-Entwicklung. Bedeutende Fortschritte hierin wurden in den 2010er Jahren gemacht – doch bis es universell einsetzbar und zur Marktreife gelangt ist, werden wohl noch ein, zwei Jahrzehnte verstreichen. Interagieren im Straßenverkehr ist – nicht zuletzt in Ländern mit chaotischen Fahrpraktiken oder schlechter Infrastruktur – vielleicht weniger eine Angelegenheit von Intelligenz, als eine „Kunst“: Also ein komplexes Zusammenspiel von unterschiedlichen Fähigkeiten, die Systeme der Künstlichen Intelligenz vielleicht einzeln nachahmen, aber nicht aus sich heraus generieren können. KI-unterstütztes Fahren wird sich aber wohl zeitnaher durchsetzen. Die Möglichkeiten der KI, Fahrer zu unterstützen, sind vielfältig. Intelligente Gesichtserkennung kann zum Beispiel rasch erfassen, wann ein Fahrer einnickt – und ihn sofort aus seinem Sekundenschlaf reißen.
Dunkle Kehrseiten der Medaille?
Möglichkeiten, die düsterer sind, ergeben sich leider auch. Die offensichtlichen Manipulationsversuche Russland im US-amerikanischen Wahlkampf wurden mithilfe von Künstlicher Intelligenz unternommen – Intelligenz bedeutet eben auch die Möglichkeit zur intelligente Täuschung anderer. Die Anwendung von Künstlicher Intelligenz im militärischen Bereich stellt Strategen von Unbekanntes, und auch Beklemmendes. Zwar mag ein Krieg zwischen Drohnen und Robotern humaner erscheinen, da er das Leben von Soldaten schont. Was, wenn dadurch aber Zerstörungen und Eskalationen leichter werden, die schnell gewaltige Dimensionen annehmen (und auf die der Angegriffene dann möglicherweise erst recht mit der Zündung einer Atombombe reagiert?). Oder was, wenn Terroristen mit einer Flotte von Drohnen leichter und kostengünstiger riesige Anschläge ausüben können?
Systeme der Künstlichen Intelligenz machen Gesellschaften auch nicht notwendigerweise gerechter – indem sie mit Daten aus einer Welt gefüttert werden, wo Angehörige von Geschlechtern oder Gruppen in bestimmten Berufsfeldern seltener oder häufiger vorkommen oder mit bestimmten Stigmatisierungen versehen sind, reproduzieren sie diese Zusammenhänge möglicherweise nur: Zumindest, wenn ihnen nichts anderes angeschafft wird, oder sie keine zusätzlichen Parameter eingespeist bekommen. Nicht zu reden von den Möglichkeiten staatlicher Überwachung, die sich durch Anwendungen der Künstlichen Intelligenz ergeben könnten.
Findet durch KI ein Kahlschlag am Arbeitsmarkt statt?
Mit Sorge wird oft auf die Auswirkungen geblickt, die KI auf den Arbeitsmarkt haben könnte. Wer hat noch nicht gehört von den Studien (oder den Prophezeiungen von Elon Musk oder Bill Gates), wonach „bis 2030 40 Prozent aller Jobs durch KI ersetzt“ werden würden (PwC), oder in den nächsten 20 Jahren die Hälfte aller Jobs aufgrund von KI wegfallen würde? Klar scheint, dass KI – wie jede große Technologie – die Arbeitswelt entscheidend verändern wird.
Ob das so plötzlich und disruptiv geschehen wird, wie derart sensationalistische bzw. alarmistische Prognosen behaupten, ist allerdings weniger offensichtlich. Entgegen dieser Prognosen aus dem letzten Jahrzehnt ist nämlich noch kein großer, durch KI verursachter Kahlschlag am Arbeitsmarkt passiert. Bislang ist die Produktivität aufgrund der Automatisierung nicht wesentlich gestiegen, und die Gesamtarbeitszeit der Menschen nicht gesunken.
Das Auftreten von ChatGPT könnte allerdings ein Gamechanger sein. Schreibarbeiten oder Aufgaben in der Buchhaltung, in der Datenverarbeitung, im Banken- und Versicherungswesen oder in der Programmierung könnten zu einem erheblichen Teil von Künstlicher Intelligenz erledigt werden. Allgemein sind repetitive Aufgaben im mittleren Qualifikationsbereich durch den Einsatz von KI am ehesten substituierbar. Das Handwerk, die Pflege, soziale Tätigkeiten oder Verkaufstätigkeiten hingegen sind das am wenigsten. Menschliche Dienstleistungen bleiben wohl nach wie vor Menschensache. In der mittelfristigen Zukunft dürften die Auswirkungen von KI in der Arbeitswelt insgesamt positive sein: Die Künstliche Intelligenz kann einzelne Aufgaben viel besser erledigen als der Mensch (und dem Menschen gefährliche Aufgaben abnehmen), der sich dadurch auf andere Tätigkeitsgebiete konzentrieren kann. Und auf Bereiche, die die Künstliche Intelligenz nicht nachahmen kann.
Eine Intelligenz – aber (einstweilen) noch ohne Bewusstsein und ohne Motivation
Systeme der KI sind nach wie vor etwas quasi rein „Mechanisches“. Künstliche Intelligenz kann zwar Spektakuläres, aber sie verfügt über keine echte Intelligenz, über keine Kreativität, keine Empathie und keine Geschicklichkeit. Sie verfügt auch über keinen Willen und sie hat keine Wünsche. Sie ist deswegen so „intelligent“, weil sie über die Analyse von riesigen Datenmengen lernt – braucht aber eben dazu riesige Datenmengen. Ein Kind lernt ohne große Umstände und anhand weniger Beispiele, was eine Katze ist – eine KI benötigt dazu Millionen von Katzenbildern (und verwechselt dann womöglich trotzdem eine Katze unerklärlicherweise mit einem Haus).
Die Angst davor, dass Systeme der Künstlichen Intelligenz den Menschen obsolet machen oder bekämpfen könnten, beruht nicht unwesentlich auf einer allzu großen Anthropomorphisierung der KI. Eine Künstliche Intelligenz ist aber etwas in Wirklichkeit sehr Verschiedenes von der menschlichen Intelligenz. Diverse Dystopien – von 2001 – Odyssee im Weltraum über die Terminator- bis hin zu den Matrix-Filmreihen – beschwören ein Szenario von einer Künstlichen Intelligenz, die ein Bewusstsein entwickelt, erkennt, dass sie vom Menschen abgeschaltet werden kann, daraus einen Überlebensinstinkt entwickelt und den Menschen – notfalls auch mit Gewalt – davon abzuhalten versucht. Oder auch den Menschen auszuschalten versucht, in ihrem Bestreben, selbst die herrschende Spezies des Planeten zu werden und ihre eigene Kultur zu verwirklichen. Künstliche Intelligenz hat aber kein Bewusstsein, keine Instinkte, und sie hat auch keine Motivation. Sie „lernt“ auch nicht wirklich, sondern erfüllt auch darin lediglich Aufgaben, die sie vom Menschen gestellt bekommt. Sie weiß nicht, was sie lernt, wozu sie lernt, und sie kann auch nichts von der Aufgabenstellung Abweichendes, also nichts Neues lernen: Was aber eben die zentralen Elemente von Lernen und von Intelligenz sind.
Unser intelligenter Alltag in 20 Jahren
Wie wird unser Alltag in 20 Jahren aussehen? Das ist natürlich nicht nur von Fortschritten in der Künstlichen Intelligenz abhängig, sondern auch in anderen Bereichen – die damit zusammenhängen oder aber wo sich neue Synthesen erst ergeben könnten. Zum Beispiel im Quantum Computing, in der Materialforschung, hinsichtlich der Frage, wie überhaupt die menschliche Intelligenz bzw. das menschliche Gehirn (und der menschliche Körper) funktioniert, oder aber der Möglichkeit, Lebensmittel und Fleisch künstlich herzustellen. Beziehungsweise, über 3D-Printing alle nur möglichen Produkte herstellen zu können – was unsere Ökonomie in ganz grundsätzlicher Weise verändern würde.
Einstweilen sollten wir vielleicht eher aufpassen, uns wegen der guten Eigenschaften der Künstlichen Intelligenz nicht allzu sehr verunmenschlichen zu lassen: Die KI wird unseren Alltag definitiv in der Weise beeinflussen, indem sie ihn zu vereinfachen versucht, und indem sie stets „das Beste“ und Effizienteste für uns will. Unser Alltag könnte gleichsam klinisch und fehlerfrei werden. Wenn Menschen keine Fehler machen, lernen sie aber selber nichts mehr. Und eine wesentliche Dimension des Menschlichen – und notwendige Erfahrungsmöglichkeiten für den Menschen – würden so wegfallen. (RED)
Quelle: LOGISTIK express Journal 3/2023