2024 – mehr Höhen oder mehr Tiefen?

Der Jahresanfang ist immer der ideale Zeitpunkt, sich über Erwartungen Gedanken zu machen. Forschungsinstitute geben alle ihre Prognosen ab, und der Logistik express hat sich umgehört, was wohl in diesem Jahr auf uns zukommen wird. Unsere Gesprächspartner (in alphabetischer Reihenfolge): Dkfm. Heinz Pechek, Geschäftsführender Vorstand, BMÖ – Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik, FH-Prof. DI Franz Staberhofer, Obmann Verein Netzwerk Logistik, Dipl.-Ing. Dr. Roman Stiftner, CSE Präsident, Bundesvereinigung Logistik Österreich (BVL) und Rainer Will, Geschäftsführer des Österreichischen Handelsverbandes.

Redaktion: Angelika Gabor

Ausgehend von der Situation (Inflation, erwartetes BIP +0,9 %, schwächelnde Bauwirtschaft, …) was ist zu erwarten?

Heinz Pechek: Die Versorgungsunsicherheit und die Lieferengpässe sind aus meiner Sicht vorüber, und ich sehe auch keine weitere Materialknappheit auf uns zukommen. Für 2024 rechne ich mit einer normalen Konjunkturentwicklung, außer in manchen Branchen wird eine Rückkehr zum gewohnten Leben für den Einkauf stattfinden. Nach wie vor muss man seine Lieferanten pflegen.

Franz Staberhofer: Die Wirtschaft wird sich nach der Überhitzung wieder normalisieren. Sozusagen ein Bullwhip-Effekt in der Wirtschaft. Die Auswirkungen werden natürlich sektorspezifisch sein – von positiven Entwicklungen mit Veränderungen im Sortiment im Handel bis zu weniger Umsatz im Bereich Bau.

Die Disziplin Logistik mit Beschaffung, Planung, Distribution, Logistik, SCM wird davon profitieren, weil diese Veränderungen gestaltet werden müssen – vor allem durch die Disziplin Logistik. Die Logistikbranche mit den verschiedenen Anbietern Transporteure, Spediteure und Logistik-Dienstleister kann sich endlich vom Personalmangel erholen und den Fokus auf Qualität sowie Kooperation legen – und darauf, Menschen zu finden und weiterzubilden.

Roman Stiftner: Die aktuelle Wirtschaftslage mit hoher Inflation und schwachem Wirtschaftswachstum betrifft viele Branchen, insbesondere die Industrie und Bauwirtschaft, und hat unmittelbare Auswirkungen auf den Logistiksektor. Hinzu kommen hohe Energiepreise und steigende Containerkosten durch internationale Krisenherde. Ein Beispiel dafür sind die Attacken der Huthi auf die Schifffahrt an der rund 27 Kilometer breiten Meerenge, dem Tor der Tränen oder Bab al-Mandab, im Roten Meer.

Bis zu 20 Prozent der weltweiten Containerschiffe meiden das Rote Meer und nehmen die viel längere Route um die Südspitze Afrikas. Die Folge: Längere Transportwege, Störungen in der Versorgung durch Lieferverzögerungen und eine Schieflage in der Verfügbarkeit von Containern, was letztlich zu höheren Kosten nicht nur in den direkt betroffenen Logistikbereichen in ganz Europa führt – mit massiven Auswirkungen auf die Wirtschaft. Man kann sagen, wenn die Ware für Ostern erst zu Sommerbeginn eintrifft, ist sie wertlos.

Rainer Will: Auch wenn dem Handel die hohen KV-Abschlüsse aus Kostensicht weh tun – das Positive ist, dass die realen Einkommen heuer signifikant steigen. Ein Lohn-Plus von durchschnittlich neun Prozent bedeutet bei einer erwarteten Inflation von vier Prozent, dass die reale Kaufkraft um fünf Prozent zulegt. So eine hohe Steigerung hatten wir lange nicht. Sie ist aber nach den Kaufkraftverlusten der letzten Jahre auch dringend notwendig. Wir hoffen natürlich, dass ein möglichst großer Teil dieser Reallohnerhöhung in den österreichischen Handel fließt. Ich bin also vorsichtig optimistisch. Wir rechnen heuer mit einem kleinen realen Plus von 1,6 Prozent. Die Rückgänge der Vorjahre machen wir damit aber bei weitem nicht wett.

Welche sind die vorherrschenden Themenfelder in Ihrer Branche? Welche Strategien werden zu Erfolg verhelfen? Wo gibt es Nachholbedarf?

Heinz Pechek: Nach wie vor ist das Global Sourcing interessant – insbesondere, da es in Österreich für viele Materialien keine Alternativen gibt. Es gilt, in Kooperation mit den Lieferanten durch systematische Gespräche Kostentreiber zu identifizieren und zu steuern, hier gibt es eine starke Hebelwirkung. Im Unternehmen muss der Einkauf mit der Konstruktionsabteilung als Team agieren, um ökonomisch und ökologisch sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Der Einsatz von künstlicher Intelligenz nimmt stark zu, entgegen früheren Prognosen kann KI sehr wohl auch strategische und kreative Aufgaben übernehmen. Wir haben probeweise den Vorspanntext zu unseren Seminarprogrammen mit ChatGPT erstellt und das Ergebnis war durchaus zufriedenstellend. Nachholbedarf hat Österreich eindeutig bei den Kosten: wenn wir diese nicht in den Griff bekommen, ist es unmöglich, im internationalen Vergleich konkurrenzfähig zu bleiben.

Rainer Will: Nach den vielen Krisen, mit denen wir in den letzten Jahren zu kämpfen hatten, wäre es höchst an der Zeit, dass der Handel endlich wieder in ruhigeres Fahrwasser kommt und sich wieder mit voller Kraft der Weiterentwicklung seiner Geschäftsmodelle und den Wünschen seiner Kunden widmen kann. Hier liegen ja traditionell unsere Stärken. Doch noch immer sagt mehr als die Hälfte aller Handelsunternehmen, sie können sich in der derzeitigen Marktlage keine verstärkten Investitionen in Zukunftsthemen leisten. Darum wären die Entlastungsoffensive und die Entbürokratisierung, die wir vehement fordern, so wichtig.

Stattdessen gibt es immer weitere Belastungen wie Verpackungsverordnungen oder Lieferkettengesetze, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Wir sind natürlich für Umweltschutz und gegen Kinderarbeit, aber Regeln müssen für alle gelten. Das ist derzeit nicht der Fall: Europäische und insbesondere österreichische Händler müssen einen Hürdenlauf mit Ritterrüstung absolvieren, während sich neue Mitbewerber aus Fernost wie Temu und Shein nicht an alle EU-Vorschriften halten und umwelt- und gesundheitsschädliche Produkte hierzulande zu Billigstpreisen anbieten können.

Franz Staberhofer: In der Disziplin Logistik werden besonders Themen wie Mustererkennung, neue Formen der Zusammenarbeit, Anpassung der Geschäftsmodelle, Wachsamkeit beim Umgang mit den Narrativen und erwarteten Regeln und Verordnungen vorherrschen. Es gibt leider nicht DIE Strategie, aber generell kann gelten, die Veränderungen zu akzeptieren und Geschäftsmodelle gegebenenfalls anzupassen.

Roman Stiftner: Die dominierenden übergeordneten Themen im Logistiksektor sind hohe Energiekosten, Verwerfungen in den globalen Lieferketten und die Dekarbonisierung des Lieferverkehrs. Alle Maßnahmen sind mit hohen Kosten und Investitionen verbunden und wirken sich auf die Wettbewerbsfähigkeit der Branche aus.

Heute habe ich gehört, die Anzahl der Biobauern und die Verkaufszahlen bei Bioprodukten gehen zurück. Gedanken dazu, Herr Will?

Wenn man sich die jüngsten Zahlen der AMA ansieht, zeigt sich, dass nicht nur die Verkaufszahlen der Bioprodukte, sondern die Verkäufe im Lebensmittelhandel ganz generell zurückgegangen sind. Das zeigt sich auch am realen Umsatzminus von 1,0 Prozent im Jahr 2023. Bei Fleisch und Geflügel sind die Marktanteile der Bio-Anbieter erfreulicherweise stabil geblieben, bei Obst und Gemüse sogar gestiegen, bei Milch und Molkereiprodukten hingegen etwas zurückgegangen. Sowohl Supermärkte als auch Diskonter setzten weiterhin vermehrt auf biologische Lebensmittel und bieten eine große Vielfalt quer über alle Warengruppen. Unser Bekenntnis zu biologischen und regionalen Lebensmitteln bleibt aufrecht.

Viel Luft nach oben sehen wir aber noch bei der Vorbildwirkung der öffentlichen Hand: Der Bund hatte sich zum Ziel gesetzt, bis zum Vorjahr den Anteil an Bio-Lebensmitteln in allen seinen Einrichtungen – von Schulen über das Bundesheer bis hin zu den Justizanstalten – auf mindestens 25 Prozent zu steigern, 2030 sollen es schon 55 Prozent sein. Tatsächlich bewegen wir uns weiterhin im niedrigen einstelligen Prozentbereich, wie sich aktuellen Zahlen entnehmen lässt. Hier wird der Staat seiner Vorbildrolle nicht gerecht, dabei würde das vielen Biobauern helfen und wäre auch zur Erfüllung unserer Klimaziele dringend notwendig.

Im September gibt es Wahlen – und sicher wieder Wahlzuckerl. Welches Wahlzuckerl würden Sie sich wünschen?

Heinz Pechek: Es ist ganz einfach, wir brauchen eine vernünftige Wirtschaftsförderungspolitik ohne Steuererhöhungen. Die Unternehmen müssen in Ruhe arbeiten können, die wissen schon, was sie tun. Es gilt, die Unternehmen zu fördern – Steuern sollen keine Strafe sein.

Rainer Will: Wahlzuckerl können wir uns in der derzeitigen Lage wirklich nicht leisten.
Wir erwarten uns keine Wählerumgarnungs-Aktionen, sondern dass die Regierung bis zum Tag der Wahl im Sinne unseres Landes arbeitet und dass auch nach der Wahl schnell eine arbeitsfähige Regierung zustande kommt, die die lange Liste an dringend notwendigen Weichenstellungen schnell abarbeitet. Was wir uns wünschen, ist zuvorderst eine Lohnnebenkostensenkung. Das wäre ein Zuckerl, das wahrscheinlich allen schmecken würde: Die Kaufkraft der Kunden würde gestärkt, der Konsum angekurbelt, die Beschäftigten würden besser entlohnt, die Arbeitsbereitschaft würde steigen, der Handel würde entlastet, und neue Arbeitsplätze würden geschaffen.

Franz Staberhofer: Mein gewünschte Zuckerl ist, dass es kein einziges Wahlzuckerl gibt – jede dieser Süßigkeiten würden dem Standort nachhaltig schaden. Es ist wie im wirklichen Leben, da fallen die Zähne aus – in diesem Fall fallen Arbeitsplätze weg.

Haben Sie Befürchtungen bezüglich der Entwicklung in Österreich (zb Konkurrenz aus China, Krisen, …)?

Heinz Pechek: Wenn Chinas Wirtschaftspolitik sich noch mehr auf Europa ausrichtet, wird man sich dringend etwas einfallen lassen müssen. Plattformen wie Sheein und Temu kann man nicht verhindern, außer eventuell durch extrem hohe Zölle.

Franz Staberhofer: Natürlich wird sich in Österreich und Europa viel ändern, aber es liegt an uns: entweder wir gestalten es, oder wir werden gestaltet.

Roman Stiftner: Wir haben es mit starken geopolitischen Spannungen zu tun, die sich auch auf die Logistik und den globalen Handel durchschlagen. Es ist wichtig, einerseits den freien Handel zu sichern und andererseits dafür zu sorgen, dass dieser unter fairen Bedingungen erfolgen kann. Österreich und Europa müssen darauf achten, dass die Abhängigkeit von strategisch wichtigen Gütern, wie Energie und Rohstoffe, nicht von einzelnen Ländern dominiert bleibt. Ziel muss es sein, noch stärker auf eine strategische Autonomie hinzuarbeiten. Insbesondere ist es entscheidend, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in den Fokus zu rücken und politische Regulierungen in Europa viel stärker als bisher an dieser Prämisse auszurichten.

Wie ist Ihre Meinung/Position zum Lieferkettengesetz?

Heinz Pechek: Meiner Meinung nach wird das Lieferkettengesetz in dieser Form nicht kommen – aber das ist nicht schlimm. Der Einkauf im Unternehmen hat schon seit jeher die Aufgabe, auf die Herkunft zu achten. Umweltauflagen machen das Produkt nur teurer. Arbeitnehmerschutz ist wichtig, in diesem Bereich kann man nicht genug tun. Die traurige Wahrheit ist jedoch, dass in den Betrieben bei Kontrollen alles super ist – und sobald der Kontrollor weg ist, arbeiten wieder Kinder in den Betrieben. Das Lieferkettengesetz würde hier nichts ändern.

Franz Staberhofer: Da habe ich seit drei Jahren unverändert dieselbe Meinung. Wir müssen uns zu einem anderen Umgang mit Ressourcen bekennen. Den Ressourcenbedarf gleich zu lassen bzw. andere Ressourcen zu verwenden ist keine Lösung. Und als Europa zu glauben, der Welt ein System aufzwingen zu können, ist naiv und zudem arrogant. Beispielsweise finden die meisten Aufbereitungen von Mineralien in China statt. Das könnten wir auch in Österreich machen – wir sind aber nicht dazu bereit, weil es Kollateralwirkungen gibt. Und statt es selbst zu tun, kritisieren wir jene, die das für uns tun – das ist eine Scheinmoral. Vielmehr müssten wir mit den entsprechenden Ländern einen Dialog zu Lösungen anstreben und vor Ort Beiträge liefern. Also etwas beitragen, statt aus der Ferne zu be- und verurteilen.

Roman Stiftner: Österreichische Logistikunternehmen arbeiten sehr verantwortungsvoll an der Einhaltung der sogenannten ESG-Kriterien, die einen rechtlichen Rahmen zum Schutz der Umwelt und zur Verbesserung der Menschen- und Kinderrechte entlang globaler Lieferketten schaffen. Es ist uns wichtig zu betonen, dass das Lieferkettengesetz von allen internationalen Partnern in gleicher Art und Weise eingehalten werden muss. Der von der Europäischen Union vorgelegte Entwurf des Lieferkettengesetzes widerspricht jedoch teilweise diesem Ziel. Er würde einseitig heimische Unternehmungen mit überbordender Bürokratie belasten und die Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen und europäischen Wirtschaft extrem benachteiligen – ohne einen positiven Effekt für die Umwelt oder bessere Arbeitsbedingungen zu bringen.

Wird es im Jahr 2024 wieder leichter werden, qualifiziertes Personal zu finden? Warum (nicht)? Falls nein – was ist zu tun?

Heinz Pechek: Die Mitarbeitersuche gestaltet sich nach wie vor schwierig. Generell ist die Qualifikation gestiegen, insbesondere im Einkauf. Man merkt jedoch, dass sich die Persönlichkeitsstruktur geändert hat: die Menschen sind ernsthafter geworden.

Franz Staberhofer: Es wird leichter werden. Die Arroganz der Bewerber wird sich reduzieren und wir kommen in eine faire Balance.

Roman Stiftner: Der Fach- und Arbeitskräftemangel, die Suche nach qualifiziertem Personal bleibt ein Dauerthema, auch aus demografischen Gründen. Die BVL Österreich leistet mit der Logistik Akademie einen Beitrag zur Aus- und Weiterbildung und Qualifizierung von Fachkräften. Wir werden auch nicht müde zu betonen, wie wichtig, attraktiv und hochwertig Arbeitsplätze in der Logistik sind. Die gesamte Branche bietet sichere und gutbezahlte Jobs. Auch deshalb wollen wir junge Menschen verstärkt für eine Karriere in der Logistik motivieren.

Werden uns das Jahr 2024 und die aktuellen Maßnahmen näher an die Erreichung der Klimaziele bringen? Warum (nicht)? Nötige Maßnahmen?

Franz Staberhofer: Da wir unser Verhalten im Verbrauch nicht auf Reduktion, sondern nur Veränderung ausrichten und wir unseren Ressourcenverbrauch auf andere Regionen verlagern, kann und wird keine CO2 Reduktion aus Weltsicht (und das Klima kennt ja keine Ländergrenzen) stattfinden. Sinnvoll wäre es, die Ziele zur richtigen Orientierung der Nachhaltigkeitssituation für die Welt zu Ende zu denken. Ein Beitrag wäre z.B., den Verbrauch des (virtuellen) Wassers als Ziel zu setzen – aber das ist eine zu erläuternde kausale Kette. (RED)

LOGISTIK express Journal 1/2024, Politik & Wirtschaft

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