Eine Chance für die Donauschifffahrt
Bietet der Krieg in der Ukraine tatsächlich eine unerwartete Chance auf Zunahme in der Donauschifffahrt? Es sieht ganz danach aus. Zumindest rückt die Wasserstraße Donau wieder mehr in den Fokus der Logistik.
Text: Peter Baumgartner
Die Russische Föderation und die Ukraine sind zusammen für 29 Prozent des weltweiten Weizenhandels verantwortlich. Allein der größte ukrainische Agrarkonzern NIBULON exportiert mit stetig steigender Tendenz fast 6 Mio. Tonnen Getreide in 38 Länder der Erde. Darunter sind Empfänger wie Ägypten, Nigeria, Kamerun oder Ghana. Jede ernsthafte Störung der Produktion und der Exporte aus der Region haben daher dramatische Auswirkungen. „In einem Jahr, in dem die Welt bereits mit einem beispiellosen Ausmaß an Hunger konfrontiert ist, ist es einfach tragisch zu sehen, wie der Hunger in der Kornkammer Europas sein Haupt erhebt“, sagte der Exekutivdirektor David Beasley vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen, während seines Besuchs an der polnisch-ukrainischen Grenze. „Die Kugeln und Bomben in der Ukraine könnten die globale Hungerkrise auf ein Niveau bringen, das über alles hinausgeht, was wir bisher gesehen haben.“
Durch die russische Blockade der Seehäfen am Schwarzen Meer und am Asowschen Meer, kann die Ukraine See- und Flusstransporte in dieser Region nicht mehr durchführen. Ein Ausweg ist noch der Süden des Landes über die Donauhäfen Reni und Ismail. Die stellvertretende Ministerpräsidentin für europäische Integration in der Ukraine, Olga Stefanyshyna, prophezeite bereits Anfang April der Binnenschifffahrt und den Wasserstraßen trotz Kriegsrecht eine hervorragende Entwicklung. „Der Unterstützung der Flussschifffahrt wird im Dialog mit der Europäischen Kommission besondere Aufmerksamkeit geschenkt“, sagte Stefanishyna mit dem Verweis darauf, dass am Status der Ukraine als Kandidat für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union gearbeitet wird. Damit wird in Folge der Zugang zu den EU-Strukturfonds erleichtert, die wiederum zur raschen Errichtung der notwendigen Infrastruktur erforderlich sind.
Auf kurzfristige Entscheidungen der EU kann und will die Ukraine allerdings nicht warten. Es müssen sofort Maßnahmen gesetzt werden, um die vom World Food Programm beschriebenen Gefahren zu reduzieren. Deshalb hat sich NIBULON, der größte Getreideexporteur der Ukraine entschlossen, sofort eine Verladeeinrichtung im Donauhafen Ismail zu errichten. Mit seinem Hauptsitz in Mykolaiv am Südlichen Bug Fluss, ist NIBULON direkt von den russischen Angriffen auf die Ukraine betroffen. Gleichzeitig hat das 30 Jahre alte Unternehmen große Erfahrungen im Umgang mit Krisen gesammelt und ist in der Lage, rasch zu reagieren.
1991, im Jahr der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine gegründet, hat NIBULON alle Höhen und Tiefen der jungen Demokratie mitgemacht und mitgestaltet. Seit seiner Gründung wird NIBULON vom Generaldirektor Oleksiy Vadaturskyy geleitet, der auch international als anerkannter Fachmann gilt. Mit einer eigenen Schiffswerft und mit einer eigenen Reederei, hat der Agrarkonzern in den letzten Jahren gezeigt, dass man die Agrarlogistik schwerpunktmäßig mit der umweltfreundlichen Binnenschifffahrt abwickeln kann. Zuletzt transportierte NIBULON mit eigenen Schiffen 73 Prozent (4 Mio. Tonnen) Ladung auf den Wasserstraßen. 16 Prozent wurden auf der Schiene und nur 11 Prozent wurden auf der Straße befördert. Auch die neue Verladestelle in Ismail soll per Bahn angeliefert werden, um den Straßenverkehr zu minimieren. Die ab 2007 aufgebaute NIBULON-Fluss-Flotte umfasst heute 82 moderne Schiffseinheiten, die überwiegend See- und Fluss tauglich ist. Noch kurz vor dem Kriegsausbruch wurde ein neuer Fluss/Meer Schubleichter aus einer neuen Bauserie in Dienst gestellt. Der 101 Meter lange und 17 Meter breite Schubleichter kann bis zu 5000 Tonnen Ladung aufnehmen. Geplant und teilweise schon in Bau, sind drei weitere Schubleichter dieses Typs. Ob und wann diese vom Stapel laufen können, wird natürlich von der weiteren Entwicklung im Kriegsgebiet abhängen.
In Ismail, wo sich auch die Firmenzentrale der ukrainischen Donaureederei UDP befindet, geht man davon aus, dass NIBULON trotz eigener Flotte auch die Schiffe der UDP beschäftigen wird. Das würde der Reederei, die in den letzten Jahren schwer zu kämpfen hatte, sehr zugute kommen. Aber auch ohne NIBULON erwartet die UDP für 2022 wieder erheblich mehr Geschäft. Bereits unterzeichnet ist ein neuer Transportauftrag über 220.000 Tonnen Eisenerz nach Serbien.
Vielleicht bleibt diesmal der Donauraum vom Krieg verschont. Zugegeben, die Hoffnung ist schwach. „Sie lagen vier Jahre im Schützengraben. Zeit, große Zeit!“ So bedauerte Kurt Tucholsky 1919 in seinem Gedicht „Krieg dem Krieg“ die verlorene Zeit und beklagte die Unbelehrbarkeit der Menschen. Es gibt keinen Frieden. Nie und nirgendwo auf der Erde. Es gibt immer nur einen mehr oder weniger langen Waffenstillstand. In dieser Zeit können bunte Flecken entstehen, die dann wieder schwarz/weiß übermalt werden…