Das Überschreiten der Gleise ist (nicht)verboten
Was ursprünglich als überlebenswichtige Information für Fußgänger gedacht war, ist in Wahrheit eine innerbetriebliche Marktstrategie der ÖBB, die sie schon über 100 Jahre konsequent verfolgt. Aber das scheint sich jetzt zu ändern.
Ausgerechnet am „Pünktlichkeitstag“ stand 2023 der komplette Zugverkehr im Osten Österreichs still. Eine technische Störung, sagt man. Was genau, wissen wir bis heute nicht. Ausgerechnet in der Mobilitätswoche bei freier Bahnbenützung, kollidiert ein Güter- und Personenzug. Es gibt Verletzte. Ursache unbekannt.
2022 (neueste Daten), verzeichnete die Bundesstelle für Unfalluntersuchung (SUB) im Bereich der Schiene 4186 Unfallmeldungen. 2017 waren es noch 2496 Fälle. Die Art der Unfälle bestimmt den Untersuchungsumfang und das ist häufig auch in anderen Transportbereichen ein Kritikpunkt, weil so Untersuchungen nicht, oder nicht genau durchgeführt und nicht veröffentlicht werden. Die Öffentlichkeit soll also, so der Verdacht, über die tatsächlichen Vorkommnisse im Dunkeln gelassen werden. So kam es 2022 bei über 4000 Meldungen nur zu einer einzigen Sicherheitsuntersuchung bei der Bahn.
Die logische Schlussfolgerung in der politischen Botschaft ist demgemäß: Hohes Sicherheitsniveau auf der Schiene. Folgt man jedoch der Kritik der Eisenbahner-Gewerkschaft, die mit Verweis auf die Änderung des Eisenbahngesetzes, ärgste Sicherheitsdefizite ortet, dann ist keinesfalls eine Verbesserung im Bahnbetrieb in Sicht. Im Gegenteil. Gewerkschafter Hebenstreit spricht sogar von „vorsätzlichen Gefährdung“. Er hat damit medial jedoch kaum Aufmerksamkeit erhalten, weil die Medien – wie üblich, immer erst hinterher die Frage stellen, wie konnte das passieren?
Unabhängig von den hausgemachten Problemen, setzt der österreichischen Bahn die europäische Bahnliberalisierung arg zu. Auch hier ist die Gewerkschaft einsamer Rufer in der Wüste. Besonders auffällig ist, dass das Thema Bahn im aktuellen Wahlkampf ausgeblendet wird. Dabei steht und fällt das Verkehrsproblem mit der Bahn. Egal ob im Personen- oder Frachtbereich. In den aktuellen Wahlprogrammen kommt die Bahn trotzdem entweder gar nicht, oder nicht umfassend vor. Wie zu erwarten, besteht die höchste Bahnpriorität traditionsgemäß bei der SPÖ. Doch was braucht der Bahnverkehr in Österreich, um die Erwartungen der Verlader, der Steuerzahler und der Mitarbeiter zu erfüllen? Alles unter einen Hut zu bringen, scheint nahezu unmöglich zu sein.
Wie im Sicherheitsbereich ist es ähnlich auch im Frachtgeschäft bei der Bahn. Der Steuerzahler, der letztlich seit Jahrzehnten Milliarden in die Staatsbahn investiert, weiß nicht, was mit dem Geld passiert. Jedenfalls bekommt er nicht, was ihm von jeder Regierung dafür immer wieder versprochen wird: Die Verlagerung des Straßenverkehrs auf die Bahn, damit endlich die enormen Belastungen durch den Straßenverkehr beendet werden und die Klimaziele erreicht werden können. Die Bahn will hingegen nur noch mehr Geld. Es entsteht aber längst der Eindruck, je mehr in die Bahn investiert wird, umso mehr LKW fahren auf der Straße. Friedrich Macher, ein ex-ÖBBler, spricht von „falsche Versprechungen.“
Und tatsächlich, die Stimmen derer, die von den bisherigen Erwartungshaltungen abrücken, werden mehr. Die Verlagerungshoffnungen sind ein Irrtum, sagt der Verkehrsexperte Sebastian Kummer. Die Pünktlichkeit stößt angesichts der globalen Warenströme an natürliche Grenzen. Die verschuldete Staatskasse kann Managementfehler nicht mehr ausbessern und die allgemeine Sicherheitslage frisst die letzte Verlässlichkeit. Trotzdem gibt es noch Weichen, die die Bahn stellen kann, um wenigstens das Niveau zu halten. Und manche sehen auch tatsächlich, wo es Handlungsfelder gibt. Sie sind bereit, „die Gleise zu überschreiten“.
So wird die Abkehr vom globalen Handel längst nicht mehr als Rückschritt verstanden. Die Stärkung der eigenen Industrie, die Verkürzung der Wege zwischen Produktion und Kunden, ist eine Forderung, die aus der Wirtschaft an die Politik gerichtet, noch vor kurzer Zeit undenkbar war. Regional wird normal. „Auslagern“ wird vielleicht bald aus dem Management-Vokabular gestrichen, weil es einfach unlösbare Probleme schafft. Damit verbunden ist eine völlige Änderung der Industrie- und Ansiedlungspolitik.
Selbst manche Politiker haben erkannt, dass ein Wirtschaftsstandort unsicher ist, wenn er von chinesischer Zulieferung abhängig ist. Und dann gibt es da noch das Zauberwort „Kooperation“. Insbesondere für die Bahn bisher ein absolutes no go, weil – das „Überschreiten der Gleise ist verboten“. Es muss ein gleichwertiges Zusammenspiel der Verkehrsträger geben, sagt Sandra Stein vom Fraunhofer Institut, eine wichtige Beratungsstelle der Bahn. Sogar der Chef von Rail Cargo Austria, Clemens Först, stellt sich die Frage, wie können wir alle Verkehrsträger optimal kombinieren, um die notwendige Flexibilität hinzubekommen. Först verspricht sich, man höre und staune, von Inter/Multimodalität eine resiliente Lieferkette. Plötzlich kommt ein längst vergessener Verkehrsträger, das Binnenschiff, wieder ins Spiel und erstmals könnte es tatsächlich zu Kooperationen zwischen Bahn und Binnenschiff im Gütertransport kommen.
Teile der Wirtschaft sind also bereits auf den richtigen Gleisen. Nur die Politik hinkt wie immer, noch hinterher. Die EU fördert Industrieansiedlungen, die die Zulieferung der halben Welt mobilisiert, statt verkehrsvermeidende Strukturen zu schaffen. Und die Politik in Österreich kennt die Begriffe Inter/Multimodalität noch gar nicht. Die „Verkehrsministerin“ hat sich in der auslaufenden Regierungsperiode gar nicht mit dem Güterverkehr beschäftigt, weil sie voll mit der Renaturierung eingedeckt war. Schon 2015 wurde von Verkehrsminister Alois Stöger ein Logistik-Kümmerer mit dem klingenden Titel „Counselor“ eingerichtet. Der Titel beschreibt eine Befähigung, die Ziele und Problemlösungen in kurzer Zeit anzustoßen vermag.
In diesem Fall sollte der Counselor alle Interessen auf einen Nenner und den Verkehrsplan zur Umsetzung bringen. Einen Verkehrsplan, der sogar der Binnenschifffahrt ein Kapitel widmete. Inzwischen ist der Anteil der Binnenschifffahrt am Gesamttransport von „wahrnehmbar“ auf „nicht mehr wahrnehmbar“ gefallen.
Den Experten gibt es schon noch. Er ist seiner Pension ein paar Jahre nähergekommen. Vielleicht, dachte sich die aktuelle Verkehrsministerin, reicht die 6-köpfige Abteilung des „Counselor“ nicht aus, um die Aufgabenstellung zu stemmen. Deshalb hat sie Ende 2023, mit dem neuen Verkehrsplan auch einen „Verlagerungscoach“ erschaffen. Der soll allerdings nur die Verlagerung von der Straße auf die Bahn vorantreiben. Da wo es – siehe oben, eh nichts mehr zu verlagern gibt.
Die Binnenschifffahrt ist bei diesem Plan wieder abgemeldet. Aber vielleicht mit der nächsten Regierung… Es gibt nämlich einen gewichtigen Grund, sich langsam einen Plan-B zu überlegen. Sollte nämlich, was sich kaum jemand wünscht, Putin gewinnen, dann befinden sich die Rohstoffe für unsere Stahlindustrie und die Binnenschifffahrt, die diese die Donau stromauf transportiert, in russischer Hand. Bekanntlich hat die ehrwürdige Donau-Dampfschifffahrts-Gesellschaft ukrainische Eigentümer und das Rohstofflager der Voest liegt ebenfalls in einer hart umkämpften Region der Ukraine. Es ist also nicht denkunmöglich, dass sich die Geschichte wiederholt und am Heck der DDSG-Schiffe wie in der Nachkriegszeit wieder eine russische Flagge weht. (RED)
Quelle: LOGISTIK express Journal Transport & Logistik 4/2024