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Nur eine Frage der Zeit, bis Alibaba in Deutschland einsteigt

Jahrelang war der Online-Handel eher die Domäne der reinen Versandhandelsspezialisten und Internet Pure Player. Doch die Zeiten ändern sich. Immer mehr stationäre Händler erkennen die Vorteile des Multichannel-Handels für sich. „Der Markt ist in ständiger Bewegung“, sagt der E-Commerce-Experte Bernd Kratz. Doch erfolgreich sind nur die Unternehmen, die letztlich auch die Logistikprozesse beherrschen.

Autorin: Karin Walter

Logistik express: Herr Kratz, im Ranking der umsatzstärksten Online-Shops liegt der amerikanische Online-Riese Amazon in Deutschland schon seit vielen Jahren unangefochten auf dem ersten Platz. Jüngst hat das Unternehmen verkündet, in ein eigenes Zustellnetz für Pakete zu investieren. Macht Ihnen diese Markmacht nicht etwas Angst?

Bernd Kratz: Amazon ist in den vergangenen Jahren wahrlich sehr groß geworden. 2014 hat das Unternehmen in Deutschland einen Umsatz von 11,9 Mrd. US-Dollar eingespielt. Trotzdem wage ich die Prognose, dass sich Amazon in Deutschland nicht auf lange Frist unangefochten an der Marktspitze halten wird.

Logistik express: Wer könnte dem Giganten noch gefährlich werden?

Kratz: Für mich ist es nur eine Frage der Zeit, bis der chinesische E-Commerce-Anbieter Alibaba plant, hierzulande Fuß zu fassen. Man kann ja schon anhand einiger Meldungen aus dem vergangenen Jahr ablesen, wie konsequent sich Alibaba darauf konzentriert, insgesamt noch stärker zu werden: Zunächst die Meldung, dass sich Alibaba die Rechte am Instant-Messaging-Dienst Snapchat sichert. Danach verkündet das Unternehmen den Einstieg ins lukrative Online-Medikamentengeschäft. Kurz darauf erfolgte eine Kooperation mit China Telecom, um die Verkaufsrechte bei Billig-Smartphones zu erwerben. Wieder etwas später erfolgen der Einstieg ins Financial Service Geschäft sowie der Aufbau eines Video-Streaming-Services. Unlängst wurde offiziell verkündet, dass Alibaba im Dezember 2015 eine eigene Niederlassung in München eröffnet hat.

Logistik express: Hier wird durch die Presse allerdings kolportiert, dass der Schwerpunkt darin liegt, europäischen Herstellern Marktzugangschancen ins Reich der Mitte zu offerieren …

Kratz: Da Alibaba bereits hier vor Ort ist, ist der Schritt zu einem Eintritt in den deutschen Markt aber nicht mehr weit. Und man darf bei allem nicht vergessen, dass Alibaba über starke finanzielle Mittel verfügt: Allein der China-Singles Day im vergangenen November hat dem Unternehmen einen unfassbaren Tagesumsatz von 13,7 Mrd. US-Dollar in die Kasse gespült – das ist eine Steigerung um 50 Prozent gegenüber dem Singles Day 2014 (9,3 Mrd. US-Dollar).

Logistik express: In den Top 10 der umsatzstärksten deutschen Online-Versender befinden sich derzeit noch verhältnismäßig wenige Multi- oder Omnichannel-Händler. Wie lässt sich das begründen?

Kratz: Mit Tchibo, Conrad Electronic, Apple und H&M sind immerhin schon vier Multichannel-Unternehmen in den Top 10 der umsatzstärksten Online-Händler in Deutschland. In den Top 50 sind es noch einmal weitaus mehr. Das zeigt doch ganz klar, dass immer mehr stationäre Händler im stationären Handel allein keine Zukunft mehr sehen. Selbst Discounter oder Möbelhändler gehen ins Netz. Ich bin mir sicher, dass die Zahl der Marktteilnehmer aus dem Multichannel-Handel in den kommenden Jahren noch deutlich zunehmen wird.

Logistik express: Der Löwenanteil des Marktumsatzes konzentriert sich in Deutschland allerdings auf einige wenige Unternehmen. Sehen Sie anhand der heutigen Marktverhältnisse überhaupt noch Spielräume für Bewegung?

Kratz: Ich sehe in der derzeitigen Situation lediglich eine Momentaufnahme, die sich sehr schnell ändern kann. Im Online-Handel entstehen laufend neue, gute Geschäftsideen. Wer meint, der Markt sei insgesamt schon besetzt, lässt sich nur von einem punktuellen Erscheinungsbild des Marktes täuschen. Ich erwarte, dass der Gesamtumsatz im E-Commerce in den kommenden Jahren weiterhin kontinuierlich zunehmen wird. Mit der richtigen Idee und Umsetzung ist für jedes Unternehmen auch heute noch ein erfolgreicher Markteintritt ins Online-Business möglich.

Logistik express: Wo sehen Sie die Erfolgsfaktoren im Multichannel-Business?

Kratz: Wer sich erfolgreich positionieren will, braucht eine begeisternde Idee. Das ist der erste Punkt. Zusätzlich braucht es einen Investor, der das Vorhaben trägt. Danach gilt es, den Prozess zielorientiert zu verfolgen. Wer sich dabei verzettelt, hat aus meiner Sicht schnell verloren.

Logistik express: Wie würden Sie das Einmaleins des Omnichannel-Business mit möglichst wenigen Worten zusammenfassen?

Kratz: Ich sehe vier Punkte als Grundvoraussetzung für ein funktionierendes Omnichannel-Business. Zum einen gilt es, auf allen Kanälen präsent sein. Zweitens müssen sich die Unternehmen so präsentieren, dass sie von den Kunden im Netz auch wirklich wahrgenommen werden. Drittens ist eine leistungsfähige IT mit den entsprechenden Datenbanksystemen gefordert. Jedes Multichannel-Unternehmen muss in der Lage sein, seine Kunden in allen Kanälen zu erkennen. Nur so ist es zum Beispiel auch möglich, Online-Retouren in den stationären Ladengeschäften entgegenzunehmen. Viertens stellt der Multichannel-Handel hohe Anforderungen an die Bestandssicherheit. Sämtliche Daten über die Produkte müssen daher über alle Kanäle hinweg in Echtzeit zur Verfügung stehen.

Logistik express: Was ist in der Omnichannel-Logistik zu beachten?

Kratz: Früher verfolgten sowohl der Distanzhandel als auch die stationären Händler die Strategie, ihre Logistikstrukturen zu zentralisieren. Das Multichannel-Retailing stellt dieses altbewährte Prinzip auf den Kopf. Zusätzlich zu einem zentralen Logistikstandort muss es von den Unternehmen noch zahlreiche kleinere, urbane Logistikzentren geben – eventuell sogar nur in Form von Filialen. Nur durch eine dezentralisierte Logistik lässt sich der anhaltende Trend zu Same-Day-Belieferungen befriedigen. Aber auch auf der konzeptionellen Ebene hat sich Vieles bereits verändert. Früher wurden die Auftragseingänge meist noch in Form von Batches gebündelt. Im Multichannel-Konzept muss die Logistik Realtime funktionieren. Dazu braucht es eine prozessuale Trennung der Filial- und Online-Belieferung. Zum anderen sind hoch automatisierte Logistiksysteme gefragt, mit denen es möglich ist, Aufträge in Höchstgeschwindigkeit abzuarbeiten.

Logistik express: In der Realität ist es aber häufig so, dass das Fulfilment in die Hand eines Dienstleisters gegeben wird. Zu welcher Strategie würden Sie diesen Unternehmen raten?

Kratz: Bei Fulfilment-Dienstleistern ist die Unsicherheit bei großen Logistikinvestitionen verständlicherweise groß – zumal es sich häufig gar nicht absehen lässt, wie sich der Kunde über die Vertragslaufzeit hinaus entwickelt oder ob der Vertrag verlängert wird. Hinsichtlich der Automatisierungsstrategie gibt es von mir trotzdem eine klare Antwort: Ein hoher Automatisierungsgrad in der Logistik setzt voraus, dass das Logistiksystem, für das man sich entscheidet, flexibel einsatzfähig und skalierbar ist sowie gegebenenfalls auch für andere Kunden oder in andere räumliche Umgebungen passen muss.

Logistik express: Ein faktischer Kostentreiber des Online-Handels sind nach wie vor die Retouren. Tun die Unternehmen Ihrer Meinung nach genug, um die Retourenquoten einzudämmen?

Kratz: Retourenquoten von 20 bis 50 Prozent sind nach wie vor ein sehr großes Problem. Denn nur allzu häufig wird vergessen: Wenn retourniert wird, entstehen doppelte Logistikkosten bei null Euro Umsatz. Aus meiner Sicht gibt es viele Möglichkeiten, um das Retourenproblem kostentechnisch einzudämmen. Zum einen denke ich, ist es nötig, sich intensiver damit auseinanderzusetzen, wie es mit einfachen Mitteln gelingt, einen Artikel wieder verkaufsfähig zu machen. Für eine intelligente Idee halte ich aber auch den in Großbritannien bereits pilotierten Ansatz, Umkleidekabinen in den Paketabholstationen zu installieren. Jedes Paket auf dem Transportweg ist gebundenes Kapital. Daher ist es wichtig, dass retournierte Artikel schnellstmöglich wieder auf den Weg zum nächsten Kunden kommen.

Logistik express: Welche Zukunft haben lokale Ladengeschäfte in Ihren Augen?

Kratz: Ich höre von stationären Händlern nur allzu oft das große Jammern. Viele Unternehmer sind der Meinung, dass der Online-Handel ihnen das Geschäft wegnimmt. Das Problem dabei ist: Jammern ist keine wirkliche unternehmerische Aktivität. Auch stationäre Händler werden sich in Zukunft verstärkt um eine Online-Präsenz bemühen müssen. Fehlen die personellen oder finanziellen Kapazitäten dazu, besteht die Möglichkeit, sich Plattformen wie Yatego anzuschließen. Regionale Online-Plattformen, die über das Produktspektrum von kleineren Ladengeschäften in der Umgebung informieren, sind bereits stark im Kommen.

Logistik express: In welchen Marktsegmenten erwarten Sie die größten Zuwachsraten für Online-Versender?

Kratz: Ich denke, dass der Fashion-Bereich weiterhin wachsen wird, in Zukunft allerdings mit etwas geringeren Wachstumsraten. Ein großer Wachstumssprung ist dagegen im B2B-Versand von Büro- und Verpackungsmaterialien zu erwarten. Auch die Zustellung von Lebensmitteln wird in Zukunft sicher noch an Bedeutung zunehmen. LeShop.ch, ein Unternehmen der Migros in der Schweiz, erzielt auf diesem Wege heute schon 175 Millionen Schweizer Franken Umsatz. Das zeigt, welches Potenzial im Online-Geschäft von Lebensmitteln möglich ist. Eine aktuelle Umfrage besagt übrigens, dass Käufer in Deutschland heute schon bereit wären, Versandkosten von 3,15 Euro zusätzlich für die taggleiche Zustellung von Lebensmitteln auszugeben. (WAL)

Bernd Kratz ist ein ausgewiesener Experte auf Seiten des interaktiven Handels. Seine beruflichen Stationen führten ihn unter anderem zu den Unternehmen Yves Rocher, Versandhaus WENZ, AGS, Conrad Electronic. Nach über 10-jähriger Funktion als Geschäftsführer der Conrad Electronic SE gründete Kratz 2011 die EMA – Executive Management Advisors GmbH. Als geschäftsführender Gesellschafter fokussiert er insbesondere auf die logistische Beratung sowie die Unterstützung des Top-Managements bei diversen Themen der Unternehmensführung, dem Prozessmanagement sowie der Erstellung von Expertisen. Ferner ist er Co-Founder der IDIH – Institut des Interaktiven Handels GmbH und der eCONment GmbH.

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