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Brexit – wann – wie eine unendliche Geschichte

Kommt es am 31. Oktober zum Brexit oder nicht? Bei Abschluss dieses Artikels ist dies immer noch nicht klar. Unternehmen sollten die Vorbereitungen auf den Brexit trotzdem weiter vorantreiben –  nicht als notwendiges Übel, sondern als Chance für eine grundlegende Überholung ihres Lieferkettenmanagement. So können sie zukünftig schneller und kosteneffizienter auf disruptive Ereignisse aller Art reagieren.

Als Boris Johnson am 24. Juli Premierminister des Vereinigten Königreichs (VK) wurde, stellte er in seiner ersten Ansprache an die Nation klar: Wenn sich die EU und Großbritannien nicht bis zum 31 Oktober auf ein Austrittsvertrag einigen könnten, dann würde sein Land eben ohne einen Deal austreten. Fünf, Wochen später, am 2. September 2019, bekräftigte er: „Ich möchte, dass jeder weiß, dass es keine Umstände gibt, unter denen ich Brüssel um Aufschub bitten werde. Austritt ist am 31. Oktober – ohne Wenn und Aber [1] ”.

Inzwischen hat die Opposition im Unterhaus versucht, diese Pläne zu durchkreuzen. Die vom Parlament verabschiedete Benn-Burt-Vorlage zwingt die Regierung, von der EU einen Brexit-Aufschub zu erbitten, falls bis zum 19. Oktober kein neuer Deal vorliegt. Zwar hat Johnson inzwischen einen neuen Vertrag mit der EU ausgehandelt, aber über diesen wurde in der Parlamentsdebatte am 19.10. nicht abgestimmt. Wir das Drama ausgeht ist weiterhin ungewiss.

Wir wissen derzeit nur, dass – rein rechtlich gesehen – Großbritannien am 1. November 2019 um 00:00 Mitteleuropäischer Zeit die EU endgültig verlässt, es sei denn:

  • beide Parteien vereinbaren eine weitere Verlängerung; der Austritt würde dann wohl auf den 31. Januar 2020 verschoben;
  • das neu ausgehandeltes Austrittsabkommen wird von beiden Parteien bis zum 31.10. angenommen und ratifiziert;
  • Großbritannien zieht die Entscheidung auszutreten einseitig zurück.

Dass es noch zu einem Brexit-Deal kommt ist möglich, aber ein No-Deal Brexit ebenso. Premier Johnson schwört, er werde keine Verlängerung beantragen.


Was bedeutet ein „No-Deal“ für EU-GB Lieferketten?
„No-Deal“ würde für Großbritannien den unwiderruflichen Ausstieg aus dem gemeinsamen, europäischen Handelssystem, das seit mehr als vier Jahrzehnten besteht, bedeuten. Dieses basiert auf harmonisierten Zoll- und Handelsregeln ohne Binnengrenzen. Damit schuf die EU ein Umfeld für Wohlstand und Wirtschaftswachstum. Die Unternehmen in Europa konnten sich ein breites, europäischen Partnernetzwerk von Lieferanten, Subunternehmern, Logistikdienstleister und Händlern aufbauen und Waren ohne große bürokratische Hürden kosteneffizient innerhalb der EU handeln und transportieren.

Die EU-Gesetzgebung betrifft heute so gut wie alle Geschäftsbereiche: den innergemeinschaftlichen Handel, Einfuhr/Ausfuhr (aus/in die EU), Verzollung, Produktkonformität, Handelsabkommen, Ein- und Ausfuhrkontrollen, Compliance, Arbeitsrecht, Luftfahrt-Landerechte usw. Am Tag nach dem Brexit gelten diese und tausend andere Rechtsvorschriften der EU nicht mehr.

Ein „No-Deal“-Brexit bedeutet auch, dass es keine geordnete Übergangsphase geben wird. Statt des EU-Rechts werden ab Austritt nur noch die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) gelten. Diese sind weniger detailliert und beschränken sich auf allgemeine Handelsfragen und -konzepte. Spannungen und Probleme sind vorprogrammiert.

 

Was bringt der «Deal»?

Unter anderem eine geordnete Übergangsphase. Zwar werden an Stelle des EU-Rechts bestimmte Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) die Handelsbeziehungen des VK mit anderen Staaten bestimmen, aber daneben gibt es bereits zahlreiche sogenannte TAC-Handelsabkommen, die eine gewisse Kontinuität der früheren EU-Freihandelsabkommen ermöglichen. Besonders relevant ist hier die Meistbegünstigtenklausel (MFN-Klausel). Solange GB kein Freihandelsabkommen mit der EU unterzeichnet hat, kann es der EU keine tarifliche oder sonstige Art von Konzessionen anbieten, ohne die gleichen Vorteile allen anderen WTO – Mitgliedsländern anzubieten.

Bis auf Weiteres tritt eine befristete Zolltarifregelung in Kraft, die den EU-Zolltarif abgelöst. Die Tarifstruktur ähnelt jedoch der der EU. Allerdings ist unter dem temporären Tarif der Import von rund 87 % aller Waren zollfrei. Nur auf 13 % der Importwaren werden weiterhin Zölle erhoben, gelten Kontingente oder andere Importbeschränkungen. Dies betrifft u.a. Fleisch und Milcherzeugnisse sowie Fertigfahrzeuge, Keramik, Dünger und Bioethanol. Details sind im “UK Integrated Trade Tariff“ online einsehbar. Die Druckausgabe umfasst drei Bände:

Diese Zollabfertigungsregeln gelten jedoch nur bedingt für den Warenverkehr zwischen Nordirland und die Republik Irland. Zwar gehört Nordirland zum Zollgebiet des VK, aber GB hatte bereits im März 2019 einen eigenen und temporäre Ansatz zu Kontrollen, Prozessen und Tarifen zwischen Irland und Nordirland beschlossen. Dieser wird im Rahmen der neuen Vereinbarung am 1. November in Kraft gesetzt. Die wichtigsten Punkte:

  • Es gibt keine Warenkontrollen bei der Einfuhr aus der Republik Irland nach Nordirland direkt an der Grenze. Warenkontrollen finden, wenn überhaupt, bei den Beförderungs- oder Im-/Exportunternehmen oder an speziellen Orten hinter der Grenze statt.
  • Waren können zwischen Nordirland und Irland entweder im i) Versandverfahren verbracht oder ii) mit einem elektronischen Anmeldeverfahren importiert oder exportiert werden. In beiden Fällen unterliegen sie so der zollamtlichen Überwachung, bis sie vom britischen Zoll als Einfuhr zum zollrechtlich freien Verkehr abgefertigt oder einem alternativen Zollverfahren unterzogen werden.
  • Der “UK Integrated Trade Tariff“ gilt nicht für irische Waren, die zwischen der Republik Irland und Nordirland befördert werden. Das VK hat beschlossen, den EU-Zollsatz einseitig anzuwenden, jedoch nur für Waren mit Ursprung Irland.
  • Drittlandswaren, einschließlich und vor allem jene aus den anderen EU-Staaten, müssen einem vollständigen Zollverfahren unterzogen werden sowie den erforderlichen regulatorischen Kontrollen. Für diese Waren gilt der britische temporäre Zolltarif.
  • Vereinfachungen soll es für KMUs geben. Details wurden aber noch nicht bekannt gegeben.
  • Das VK hat beschlossen, für Waren, die zwischen beiden Regionen befördert werden, in GB keine summarischen Eingangs- oder Ausgangserklärungen zu verlangen. Ob dies nur für irischen oder alle Waren gilt, ist noch zu klären.
  • Ab dem 1. November 2019 soll auch ein vereinfachtes Interimverfahren «Transitional Simplified Procedure (TSP)» gelten, um Importe aus der EU nach GB schnell und reibungslos abzufertigen. TSP reduziert die Menge an Informationen, die beim Grenzübertritt der Waren bereitgestellt werden müssen. Stattdessen können die vollständige Zollanmeldung und die Zahlung der Abgaben im Nachhinein erfolgen. Um das TSP zu nutzen, sind eine Anmeldung im eZollsystem und eine GB EORI-Nummer erforderlich. TSP gilt nur für den Handel zwischen der EU und GB. Außerdem gibt es einige Ausnahmen bei der Anwendung. Zum Beispiel können Zollagenten oder Zollvermittler TSP-Zollerklärungen nur im Namen von bereits registrierten Unternehmen abgeben
  • Britische Unternehmen werden in Zukunft das NCTS-System der EU für den Transport von Waren im Rahmen der “Common Transit Convention“ (CTC) nutzen. Die britische Regierung hatte das Übereinkommen über ein gemeinsames Versandverfahren unterschreiben, um Unternehmen zu ermöglichen, Waren über EU-Grenzen hinweg ohne Zahlung von Einfuhrzöllen zu befördern, bis die Waren an ihren tatsächlichen Bestimmungsort ankommen. Zur weiteren Vereinfachung dieses Versandverfahren gelten die bereits vom UZK bekannten Möglichkeiten.

Die Vorbereitungen laufen.
Trotz des politischen Hickhacks laufen die Vorbereitungen auf den Brexit seitens der Unternehmen, Behörden usw. sowohl in der EU wie auch in Großbritannien.

Irland wird bei einem ungeregelten Brexit Kontrollen von Waren und lebenden Tieren in der Nähe der Grenze zum britischen Nordirland sowie in Häfen, Flughäfen und bei irischen Unternehmen durchführen. Die Details werden derzeit mit der EU-Kommission ausgearbeitet. Die irische Grenzfrage gehört zu den umstrittensten Punkten bei dem für den 31. Oktober geplanten britischen EU-Austritt. Die EU und ihr Mitglied Irland wollen Kontrollposten an der Grenze zu Nordirland unbedingt vermeiden, weil eine neue Teilung der Insel politische Unruhen auslösen könnte.

Eurotunnel hat für die ca. 5000 Lkw, die täglich den Channel Tunnel passieren,  Terminals für die Zollabfertigung in Folkestone und Coquelles eingerichtet. Die Waren im Wert von rund GBP 130 Mrd. entsprechen 26% des Handelsvolumens zwischen Großbritannien und Kontinentaleuropa. Auch in den Häfen auf beiden Seiten des Ärmelkanals wurden bereits große Investitionen getätigt und weitere sind geplant, einschließlich der Ausbildung zusätzlicher Zöllner.

EU-Firmen mit starker Abhängigkeit vom britischen Markt sowie britische Firmen mit hohen Exporten in die EU suchen bereits seit geraumer Zeit nach neuen Absatzmärkten. Angesichts der sich abschwächenden Weltkonjunktur ist dies kein leichtes Unterfangen.

Hohe Kosten.
Zwischenlager, die zum ersten Austrittstermin  im April eingerichtet wurden, um Versorgungsengpässe zu vermeiden, wurden zwischenzeitlich bereits teilweise wieder abgebaut. Bei Waren mit Verfallsdatum (Lebensmittel und Pharmazeutika) entstanden durch die Terminverschiebungen hohe Schäden. Lagerhaltungskosten und der notwendige Abbau von Lagerüberschüssen haben zudem die Gewinne erodiert. Die Planungsunsicherheit macht eine Lieferkettenoptimierung schwierig. Gibt es einen besseren Weg?

Agiles Supply Chain Management ist gefragt.
Um schnell und kostenoptimiert reagieren zu können, ist eine detaillierte Situationsanalyse nötig:

  • Welche Kunden, Lieferanten und Unterlieferanten sind vom Brexit betroffen?
  • Um welche Warenvolumen und -werte geht es?
  • Welche zusätzlichen Kosten entstehen dem Unternehmen durch den Brexit?
  • Wo könnte es Engpässe in der Lieferkette geben?
  • Wie können Lieferketten verändert werden, um Störungen zu vermeiden?

Es braucht eine ganzheitliche Übersicht über das Supply-Chain-Ökosystem, soweit es den Handel EU-GB betrifft. Nur so können Liefer- oder Produktionsengpässe rechtzeitig erkannt und Alternativen gesucht werden. Nur gemeinsam und im regen Informationsaustausch miteinander können die Handelspartner die Auswirkungen potenzieller Brexit-Störungen bewältigen und abschwächen. Für die notwendige Transparenz und strategische Entscheidungen braucht es Daten! Brexit-ready sein, bedeutet mit zeitnahen, genauen und vollständigen Daten im Supply Chain Management zu arbeiten.


Das ist leichter gesagt als getan! Die meisten Unternehmen betreiben mehrere ERP – Systeme, mit verschiedenen Anwendungen und arbeiten teilweise noch mit Exel-Tabellen und manuellen Prozessen. Im Vorteil sind jetzt Unternehmen, die sich in Vorbereitung auf den Brexit von Patchwork-IT-Anwendungen losgesagt und vernetzte End-to-End-Plattformlösungen eingeführt haben. Diese Firmen verfügen über die Daten, um die notwendigen strategischen Entscheidungen zur Lieferkettenoptimierung nach dem Brexit zu treffen.

Eine “End-to-End”-Lieferkettenplattform, wie sie u.a. von E2open angeboten wird, unterstützt nicht nur die Vorbereitungen für den Brexit, sondern ist auch ein hervorragendes Instrument zur Bewältigung anderer globaler Handelsherausforderungen. Dazu zählen protektionistische Maßnahmen, schrumpfende Absatzmärkte, Naturkatastrophen usw. End-to-End-Transparenz bei Lieferketten oder Liefer-Ökosystemen sind mit und ohne Brexit eigentlich eine Notwendigkeit um im globalen Wettbewerb bestehen zu können.

Autor: Arne Mielken

[1] Erklärung des Premierministers: 2. September 2019 https://www.gov.uk/government/speeches/prime-ministers-statement-2-september-2019

Quelle: LOGISTIK express Ausgabe 4/2019

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